
Die gegenwärtige Situation der Welt, da sind sich die Experten einig, ist von wachsender Unübersichtlichkeit und Unordnung, vor allem aber durch beispiellose Ungewissheiten und Risiken geprägt. Was wir sehen, ist die wachsende Gefahr der ökologischen Selbstzerstörung der Menschheit durch Klimawandel, durch Handels- und ebenso reale Kriege — alte und neue.
Von Prof. Dr. Thomas Meyer
Vortrag anlässlich des Großlogentreffen 2019 in Mannheim.
Das ist keine „German Angst“ und auch kein Unkenruf, sondern das Urteil sehr nüchterner und erfahrener Kenner der Lage. Und es ist ja auch die Wahrnehmung der meisten von uns, soweit wir am öffentlichen Leben teilnehmen.
Was wir sehen, ist vor allem die Schwächung der ohnehin noch sehr unzureichenden Institutionen des globalen Gemeinschaftshandelns, der UNO, des Pariser Weltklima-Abkommens, des Welthandelsabkommens. Die liberale Weltordnung zerfällt. Wir treten in eine neue Ära ein, wir wissen nur noch nicht, in welche. Das eigentlich Schlimme aber ist, dass die liberale Ordnung nicht einfach zerfällt — sie wird vielmehr gezielt zerstört, im großem Stil von autoritären nationalistischen Führern, die anschwellende populistische Strömungen ihrer Länder teils benutzen, teils von ihnen hervorgebracht werden. Und zwar in nahezu allen Teilen der Welt, maßgeblich von Trump in den USA, zuletzt in dem Riesenland Brasilien (unter J. Bolsonaro) bis nach Indien unter dem Hindu-Fundamentalisten Mothi.
Etwas ist falsch gelaufen mit der Globalisierung. Sie ist anscheinend im Begriff, ihr eigenes Gegenteil aus sich hervorzutreiben: eine weltweite Renaissance des Nationalismus gegen globale Kooperation und Multilateralismus. Der Philosoph Hegel würde das vermutlich die „Dialektik der Globalisierung“ nennen. Vor unserer Haustür – fast könnte man sagen: mitten in unserer politischen Herzkammer — rütteln Nationalisten und Populisten heftig und mit beträchtlichem Erfolg an unserem schwer errungenen europäischen Gemeinschaftsprojekt EU. Es geht nicht nur um den Brexit. Bedeutender ist das knappe Drittel der EU-Gegner im Parlament der Union und die als Vetospieler mächtige Truppe gleichgesinnter Regierungschefs in Kernländern der Union, nun sogar Im EU-Gründungsland Italien.
Diese neue Entwicklung erfasst — mehr oder weniger — auf je eigene Weise fast alle Länder der Gegenwart. In sehr vielen, vor allem auch bedeutenden von ihnen wie Frankreich, USA oder Brasilien, repräsentiert der autoritäre, gegen den globalen und regionalen Mulitlateralismus ankämpfende Rechtspopulismus heute bis zu 30%, sogar 40% der Gesellschaften.
Woher kommt das und worauf läuft es hinaus? Das sind die Fragen, denen ich mich in einer etwas grundlegenderen Weise am Beispiel unseres eigenen Landes heute zuwenden möchte.
Die anhaltende Schwäche, ja sogar der Niedergang der europäischen Volksparteien liegt einer gut begründeten Erklärung zufolge vor allem an der übermäßigen Konzentration der gesamten liberalen Mitte der Gesellschaft und der Politik auf Fragen der sozio-kulturellen Identitätspolitik, wie etwa die „Ehe für alle“, das „richtige“ Gendern der Sprache etc., in jüngster Zeit sehr verschärft durch unklare Positionen in der Frage der Kontrolle der Grenzen und der Migration, die mittlerweile zum übergreifenden Symbol für den gesamten neuen Konflikt geworden ist. Dadurch seien die eigentlichen Kernanliegen der liberalen Mitte, zumal soziale Gleichheit, gute Arbeit, soziale Sicherheit und ökologische Nachhaltigkeit, fast gänzlich überschattet worden. Letztlich sei der fatale Aufschwung des Rechtspopulismus in so vielen Ländern nichts anderes als die Antwort der sozial und kulturell Verunsicherten auf diese Vernachlässigung ihrer existenziellen Interessen zugunsten der abgehobenen Bedürfnisse einer neuen Mittelklasse, die von der Globalisierung wirtschaftlich und lebenskulturell profitiert. Die eigentliche Arbeiterklasse (prekäre Niedriglöhner) und große Teile der alten Mitteklasse (auch Facharbeiter), die infolgedessen in den Volksparteien, allen voran der europäischen Sozialdemokratie, nicht länger ihren berufenen Anwalt erkennen können, sähe nun zunehmend in der ethnischen Identitätspolitik der populistischen Rechten mit ihrem Ruf nach Schließung der Grenzen die einzig befriedigende Antwort auf ihr vernachlässigtes Verlangen nach Sicherheit, Orientierung und Wertschätzung.
In der öffentlichen Diskussion ist eine stetige Neigung einflussreicher Akteure der Medien und der Politik zu beobachten, die brisante Demarkationslinie zwischen dem radikalen Rechtspopulismus und der legitimen Infragestellung der gegenwärtigen Migrationspolitik zu verwischen. Skeptiker dieser Politik können dann leicht aus der Mitte, wo viele von ihnen tatsächlich angesiedelt sind, an den Rand der Gesellschaft, in Richtung Rechtspopulismus abgeschoben werden, auch wenn sie eigentlich nur Klarheit und konsequentes Handeln suchen und damit zu einer öffentlichen Debatte beitragen, die bis heute nicht ausreichend geführt wird. Kriterien und Begriffe drohen zu verschwimmen — und die radikalen Rechtspopulisten mit ihrem identitätspolitischen Kern, in Wahrheit eine sehr kleine Gruppe, profitieren davon.
„Letztlich sei der fatale Aufschwung des Rechtspopulismus in so vielen Ländern nichts anderes als die Antwort der sozial und kulturell Verunsicherten auf diese Vernachlässigung ihrer existenziellen Interessen zugunsten der abgehobenen Bedürfnisse einer neuen Mittelklasse.“
Soweit diese These zutrifft, bezieht sie sich auf allgemeinere Veränderungen, nämlich auf tiefgreifende Umwälzungen im Gefüge von Gesellschaft und Politik insgesamt, in die der Streit um Grenzen eingebettet ist. Zunächst ist festzustellen, dass die große Entfremdung zwischen der „Neuen Arbeiterklasse“ aus prekär Beschäftigten sowie Teilen der „Alten Mittelklasse“ (kleine Selbstständige, Facharbeiter) und den Volksparteien der Mitte nicht erst von deren unklarer Migrationspolitik verursacht worden ist. Sie ist vielmehr der Ausdruck grundlegender gesellschaftlicher und sozialer Wandlungsprozesse infolge einer ungeregelten Globalisierung, welche die politische Landschaft in fast allen Demokratien weltweit umpflügen. Das jedenfalls belegen die jüngsten sozialwissenschaftlichen Forschungen. In deren Licht zeigen sich die neue soziale Polarisierung und die gewachsene Unsicherheit, die massenhafte Migration und das verbreitete Unbehagen an ihr nur als Facetten in einem größeren Bild, allerdings mit der Pointe, dass sich, wie angedeutet, die neuen politischen Widersprüche mittlerweile auf das Thema Migration symbolisch konzentrieren und emotional auf problematische Weise zuspitzen. Worum geht es dabei?
Neue Konflikte und wie wir mit ihnen umgehen können
Jede Gesellschaft ist von einigen wenigen Grundkonflikten geprägt, die aus den verschiedenen Interessen, Werten und Lebensformen hervorgehen, die ihrerseits aus unterschiedlichen Berufspositionen, Sozialisationswegen und kulturellen Prägungen der Menschen erwachsen. Für die europäischen Gesellschaften hat sich in der Politikwissenschaft ein Erklärungsmuster durchgesetzt, demzufolge die großen gesellschaftlichen Umwälzungen bzw. „Revolutionen“, die grundlegende Veränderungen im Leben vieler Menschen bewirken, jeweils neue politische Grundkonflikte hervorbringen. Diese Grundkonflikte führen zur Gründung von gesellschaftlichen Vereinigungen und politischen Parteien. Sie bringen ganze Ideologien hervor, in denen die neue Situation aus der Sicht der jeweiligen Gruppen gedeutet wird.
Bis heute wirksam geblieben sind in fast allen europäischen Ländern die Prägungen aus den folgenden Konstellationen:
Bedingt durch den Kompromissdruck der modernen Demokratie, die Umverteilungs- und Sicherungswirkungen des Sozialstaats und diese gesellschaftlichen Prozesse der Individualisierung haben sich die anfänglichen scharfen Konfliktlinien stark abgeschliffen, und an die Stelle der Konfrontation klar umrissener Konfliktgruppen bzw. Klassen sind sozio-kulturelle Milieus getreten. In jedem dieser Milieus mischen sich sozio-kulturelle Interessen, politische Grundwerte und kulturelle Lebensformen auf jeweilige Weise. Aber unterschiedlich starke Impulse aus den klassischen Konfliktlinien sind in ihnen in abgeschwächter Form weiterhin wirksam. Sie prägen den Habitus ihrer Mitglieder, einschließlich ihrer parteipolitischen Präferenzen und haben daher deutliche Auswirkungen auf das jeweilige Parteiensystem eines Landes.
Gegenwärtig befinden sich alle westlichen/kapitalistischen Demokratien in einer voraussichtlich für lange Zeit prägenden Umbruchsituation, die von der wirtschaftlichen, kommunikativen und verkehrsbezogenen Globalisierung, gestützt auf die zunehmende Digitalisierung, in allen Bereichen vorangetrieben wird. Der Gesamtzusammenhang der Globalisierung kann wegen der tiefgreifenden Umwälzung des kompletten gesellschaftlichen Lebens in fast allen von ihr betroffenen Ländern als eine soziale Revolution angesehen werden. Es zeigt sich, dass sie — wie ihre historischen Vorgänger — neue Konflikte, neue „Ideologien“ und eine neue Parteienkonstellation hervorbringt. Sie erzeugt eine scharfe Entgegensetzung zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern, die im Begriff ist, einen neuartigen sowohl ökonomisch wie kulturell und sozial geprägten Konflikt zwischen „Kosmopoliten“ (Grenzen weit öffnen) und „Kommunitaristen“ (die eigene Gemeinschaft abgrenzen und schützen) auszubilden. Dieser Konflikt geht durch die großen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen mitten hindurch und prägt das gesellschaftliche Klima. In Deutschland hat er mit der AfD eine rechtspopulistische Partei ins Bundesparlament gebracht und in einigen Bundesländern sogar in eine Führungsrolle. Die andere Folge der unbeherrschten Globalisierung besteht im starken Anwachsen der Migrationsströme von Süd nach Nord. Die unbeherrschten Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Entwicklungen haben die Tendenz, unsere Gesellschaften zu spalten sowie populistische Bewegungen und Ideologien zu fördern, die sich als konsequentester Ausdruck des „kommunitaristischen Interesses“ verstehen. Durch sie werden demokratiekritisch-autoritäre Führer populär (Trump, Orban, Salvini etc.). Die Demokratie selbst kann dabei mit der Zeit von innen ausgehöhlt oder gar ganz zur Disposition gestellt werden.
Die moderne Klassengesellschaft
Der beschriebene Globalisierungskonflikt, verwoben mit der digitalen Revolution, die er begünstigt und die ihn wiederum vorantreibt, verursacht das Entstehen einer neuartigen Klassengesellschaft mit einer eigentümlichen Kombination aus alten Verteilungskonflikten und neuartigen Konflikten um Grenzen sowie soziale und kulturelle Anerkennung (Wolfgang Merkel/Michael Zürn). Die Prozesse einer weitgehend unbeherrschten ökonomischen Globalisierung treiben einen neuen gesellschaftlichen Grundkonflikt hervor, mit breit ausstrahlenden wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Wirkungen (Andreas Reckwitz). Die neuen Konflikte ergänzen die beiden bislang maßgeblichen Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit sowie Industrialismus und Ökologie massiv und formen sie mit einer Tendenz zur Verschärfung folgenreich um.
Etwa 1/3 der Gesellschaft, aufsteigende Globalisierungsgewinner durch ihr hohes ökonomisches und kulturelles Kapital, kosmopolitischer Habitus, Überwindung von Grenzen
Etwa 1/3 der Gesellschaft, kleine/mittlere Selbstständige, Facharbeiter, Angestellte, Beamte, mittleres ökonomisches Kapital, globalisierungsfremdes kulturelles Kapital, Abstiegsängste, kommunitaristischer Habitus (zivil oder identitär)
Etwa 1/3 der Gesellschaft, geringes ökonomisches und kulturelles Kapital, prekäre Beschäftigung, Geringverdiener, soziale Unsicherheit, kommunitaristischer Habitus (zivil oder identitär)
Auch die neuen Konflikte führen wie die alten nicht zu einer lückenlosen Polarisierung der ganzen Gesellschaft, aber sie bringen klar erkennbare Pole mit weit gespannten Einflusssphären hervor und beeinflussen damit in wechselnder Eindeutigkeit und Stärke die politische Mentalität des größten Teils der Gesellschaft. Den einen Pol bildet ein unter anderem auf offene Grenzen und ungesteuerte Migration gerichteter „Kosmopolitismus“ (in der sperrigen Sprache der Sozialwissenschaften), wie er vor allem in Teilen der Neuen Mittelklasse der Globalisierungsgewinner gepflegt wird, den anderen ein auf geschlossene Grenzen und restriktive Einwanderungskontrolle gerichteter „Kommunitarismus“ als Mentalität eines Teils der Globalisierungsverlierer. Die einen suchen umfassende Öffnung, weil sie mit ihren beruflichen Fähigkeiten und kulturellen Neigungen davon überall profitieren können, die anderen suchen Schutz für ihre Arbeitsplätze und Anerkennung in der Gemeinschaft mit Ihresgleichen. Die Gegensätze sind nur in Nähe der Pole stark und schwächen sich in Richtung Mitte der Gesellschaft immer mehr ab, wo dann Kombinationen aus Elementen beider Mentalitäten häufiger werden.
Eine Migrationsstudie der Friedrich- Ebert- Stiftung vom April 2019 rundet die bisher erhobenen Befunde ab (sie verwendet die Begriffe „Weltoffene“ (WO) und „National Orientierte“ (NO) für die beiden genannten Pole): An den Rändern befinden sich auf der einen Seite 11% (NO) und der anderen 7 % (WO) der Menschen. Abgeschwächt stehen unter deren Einfluss weitere etwa 14 % (NO) bzw. 19 % (WO), also ca. 25 % der Gesellschaft auf jeder Seite. Die andere Hälfte der Gesellschaft bildet die im Hinblick auf die Streitfragen „bewegliche Mitte“. Angesichts der schwindenden Wahlunterstützung für die „Volksparteien“ (SPD ca. 17 %, CDU/CSU ca. 28 %) sprechen diese Zahlen dafür, dass dem neuen politisch-kulturellen Grundkonflikt um die Gestaltung der Globalisierung und ihrer Folgen für das gesellschaftliche Klima, das Parteiensystem und die Wahlchancen der Parteien ein sehr großes, im Zweifel ausschlaggebendes Gewicht zukommt. Den „kosmopolitischen“ Pol der Grenzöffner besetzen hierzulande in Reinform die Grünen und die Linken, den „kommunitaristischen“ Pol der Grenzschließer nur die AfD, die anderen Parteien navigieren in diesem Spannungsfeld mit mühsam ausgehandelten Kompromissen und oftmals undeutlichem Kurs; und die eigentliche Wählerschaft der SPD, sowie ein großer Teil ihrer Mitgliedschaft erscheint in der Mitte gespalten mit der Tendenz, sich in die eine oder andere Richtung zu verlieren. Auch dieser Konflikt lässt sich natürlich nur produktiv handhaben, wenn er zunächst vorurteilslos verstanden wird.
Neue Konflikte und unklare Begriffe
Nun erweisen sich aber die plakativen Begriffe „Kosmopolitismus“ und „Kommunitarismus“ als überaus hinderlich, wenn es darum geht, das ganze Bild der neuen Konflikte zu verstehen — und mehr noch bei der Suche nach tragfähigen politischen Kompromissen zwischen den gemäßigten Mehrheiten der beiden Seiten. Es geht ja auch nicht um Grenzen allein. Die ökonomische Globalisierung führt zu einer Paternoster-Gesellschaft (Andreas Reckwitz), in der das eine Drittel, nämlich die Angehörigen der von ihr profitierenden Berufe des Digital-, Finanz-, Beratungs- und Kulturbereichs finanziell und sozial steil aufsteigen und zunehmend auch die lebens-kulturellen Standards für die ganze Gesellschaft bestimmen, während die beiden anderen Drittel, die Alte Mittelklasse der kleinen Selbständigen plus Facharbeiter und die Neue Arbeiterklasse der gering qualifizierten Dienstleistungsberufe nicht nur finanziell stagnieren oder absteigen, sondern zudem eine kränkende Abwertung ihrer Lebensstile und Alltagskulturen erfahren. Wer durch seine Ausbildung und kulturellen Möglichkeiten von der Globalisierung profitiert, neigt in der Regel zu einem sehr welt-offenen Habitus in allen Belangen, wirtschaftlich, kulturell und sozial, im persönlichen Lebensstil, Partnerschaft, Freizeit, Kunstgeschmack, Erziehung und politischer Kultur. Wo hingegen die Globalisierungsfolgen als Bedrohung und Verlust von Einkommen, Sicherheit und Wertschätzung real erfahren werden, prägen Abwehr des Wandels, Festhalten an der gewohnten Lebenskultur und das Verlangen nach Schutz den ganzen Habitus.
Das kann nur zu wechselseitiger Fremdheit bis hin zur Verachtung führen. Mit dem hergebrachten ökonomischen Verteilungskampf verbinden sich auf diese Weise nun neue Kämpfe um soziale und kulturelle Anerkennung, bei denen allerdings die Eliten aufgrund ihrer Einflusspositionen in allen gesellschaftlichen Bereichen die Normen setzen und die Regeln des Spiels bestimmen. Die beiderseitigen Ressentiments laden die Konflikte emotional auf und blockieren die Verständigung. Diese neue Lage hatte sich schon seit den 1990 er Jahren schrittweise herausgebildet, ehe dann rund um das Jahr 2015 die stark anwachsende Migration von beiden Seiten zum Sinnbild des beschriebenen Konfliktes gemacht wurde und dessen vielfältige andere Dimensionen verdeckte. Das Symptom der großen Migration mit ihren realen und befürchteten Folgen erschien nun als Ursache der ganzen neuen Konfliktlage.
In dieser Situation werden die Chancen für Reformen der deformierten Gesellschaft und der politischen Verständigung darüber eher verringert, wenn die äußerst erläuterungsbedürftigen Begriffe „Kosmopolitismus“ und „Kommunitarismus“ zur Kennzeichnung der beiden „Lager“ kommentarlos in die öffentliche Debatte hineingetragen werden. Ihr Problem besteht nicht nur darin, dass sie den skizzierten Gegensatz überspitzen, sondern auch, dass sie falsche Fährten legen. Die Debatte wird durch sie zu sehr auf die Symbolfrage der Migration verkürzt und zugleich der eigentliche Konflikt grob verzerrt. Der Begriff „Kosmopolitismus“ legt, so wie er jetzt verwendet wird, die radikale Abkehr von lokaler Verbundenheit, von den sozialen Gemeinschaften und der nationalstaatlichen Loyalität nahe, obgleich das in der historischen Entwicklung seiner Verwendung und der tatsächlichen Mentalität der gegenwärtig damit Bezeichneten keineswegs festgeschrieben ist. Und am Begriff „Kommunitarismus“ haftet die Suggestion, die damit Gemeinten seien letztlich allesamt Anhänger einer ethnischen oder religiösen Identitätspolitik, also genau genommen eindeutige Rechtspopulisten, was ausweislich der Umfragedaten und erst recht der Geschichte des Begriffs eben gerade nicht der Fall ist. Diese schiefen Suggestionen vernebeln die politische Landschaft und können zu Exzessen führen, wenn schon Haltungen, die nicht umstandslos auf offene Grenzen und den Verzicht auf strikte Überprüfungen von Asylbegehren hinauslaufen, dem eigentlichen Rechtspopulismus zugerechnet werden — sehr zum Beifall von dessen härtesten Verfechtern.
Noch unglücklicher ist die Wahl des Begriffs „Kommunitaristen“ für die Migrationsskeptiker auf der Gegenseite. In seiner philosophischen Verwendung (Michael Walzer) bezeichnet er die Relativität der Geltungsansprüche des „Gerechten“ und „Guten“ auf die jeweilige kulturelle Gemeinschaft, die ihn trägt. Freilich schließt das auch weiträumige Überlappungen im Verständnis grundlegender Werte zwischen sehr verschiedenen kulturellen Gemeinschaften nicht aus, wie etwa in Walzers Vorstellung einer kulturellen Gemeinschaft des politischen Liberalismus. Der politische Kommunitarismus aber, um den es im vorliegenden Zusammenhang ja geht, bezieht den Gemeinschaftsanspruch ausschließlich auf die liberal-demokratische politische Kultur und betont, dass diese selbstverständlich von ethnisch und religiös höchst divergenten Bürgern geteilt werden kann — und soll (so Amitai Etzioni). Darauf kann sich keine wie immer geartete Identitätspolitik berufen. Beide Konzepte, „Kosmopolitismus“ und „Kommunitarismus“, sind vielmehr begriffsgeschichtlich auf die Bezeichnung von politischen Mentalitäten angelegt, in denen sich Republikanismus, d. h. die politische Gemeinschaftsbildung der Demokraten und transkulturelle Kooperation verbinden. In dem mehr als unglücklichen und politisch irreführenden Gebrauch der Begriffe, der sich in Politikwissenschaft, Politik und Publizistik seit Kurzem eingebürgert hat, sollen sie das aber gerade ausschließen. Es liegt auf der Hand, dass das treffend beschriebene komplexe Bild der neuen Wirklichkeit mit diesen beiden Schlagwörtern nur auf eine sehr ungefähre und teilweise irreführende Art erfasst wird.
Ein guter Kompromiss ist möglich
Vollends hinderlich werden beide Begriffe beim Versuch, angesichts der gegenwärtigen Krise der Globalisierung und der westlichen Demokratien den dringend gebotenen historischen Kompromiss zwischen den gemäßigten Kräften der beiden „Lager“ zu schmieden. In der Sache geht es dabei um eine humane Migrationspolitik, die auf der Basis einer funktionierenden Kontrolle der Grenzen Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge während der Dauer ihrer Gefährdung zuverlässig schützt und für arbeitssuchende Migranten offenbleibt, aber nur, wenn ihnen eine Anstellung gesichert werden kann. Und wenn dabei im Kantischen Sinne die politisch-kulturelle Integrität der Republik und die autonome Entscheidungsfähigkeit der Gemeinschaft ihrer Bürger gewahrt bleibt. Darüber hinaus muss garantiert werden, dass die ökonomischen, sozialen und kulturellen Kosten der gesellschaftlichen Integration einer großen Zahl bleibeberechtigter Migranten je nach Tragfähigkeit fair auf die verschiedenen sozialen Gruppen verteilt wird, mit zusätzlichen Hilfen für die prekäre Klasse der Aufnahmegesellschaft. Der politische Leitbegriff, wenn es denn eines solchen bedarf, für diesen Kompromiss kann nur, wie Julian Nida-Rümelin vorschlägt, der „Republikanische Kosmopolitismus“ im erläuterten Sinne sein — falls sich keine handlichere Wendung für die damit gemeinte Sache finden lässt. Was dann freilich noch fehlt, sind überzeugende Antworten zur Überwindung der Ungleichheit der materiellen Lebenschancen, zur glaubwürdigen Gewährleistung sozialer Sicherheit und zur wechselseitigen Anerkennung der auseinanderstrebenden kulturellen Lebensformen der neuen Klassen. Kein kleines, aber ein lebensnotwendiges Projekt für eine zukunftsfähige Demokratie im neuen Jahrhundert der Globalisierung.
Integration
Ebenso wichtig für diesen großen demokratischen Kompromiss wie eine verantwortlich gesteuerte Immigration, die Humanität und einen auf die Kapazitäten der Aufnahmegesellschaft bezogenen Realismus verbindet, ist ein konsequentes Verständnis von Integration. Im Unterschied zur Assimilation als vollständiger Anpassung der Migranten an die Kultur des Aufnahmelandes, verlangt Integration „nur“ die Übernahme von dessen öffentlicher Kultur, während die Verschiedenheiten ihrer Glaubens- und privaten Lebenskultur anerkannt und respektiert werden.
Bei der öffentlichen Kultur geht es um die Normen, Werte und Praktiken, die eine rechtsstaatliche Demokratie braucht, um auf Dauer lebensfähig zu sein, also um die politische Kultur. Die rechtsstaatliche Demokratie würde ja in dem Maße mit sich selbst in Widerspruch geraten, wie sie über diejenigen Normen hinaus, die die autonomen Entfaltungsspielräume der in ihr Lebenden sichern sollen, auch noch kulturelle Regeln der Lebensweise selbst verbindlich machen wollte. Ein solcher Übergriff wäre der erste Schritt in ein fundamentalistisches Kulturverständnis, das nicht nur die Regeln der Moral und des Rechts für alle verbindlich machen will, sondern darüber hinaus der spezifischen Ethik eines der miteinander lebenden Kollektive Verbindlichkeit auch für die anderen zusprechen will.
Die politische Kultur ist jedoch ein mit der allgemeinen Kultur verwobener Teil der Gesellschaft. Sie umfasst zum einen diejenigen Teile der Einstellungen, Orientierungen, Emotionen, Werturteile, Kenntnisse und Verhaltensdispositionen der allgemeinen Kultur, die sich speziell auf politisches Handeln beziehen. Sie schließt aber auch einen gemeinsamen Entwurf dessen ein, was die Staatsnation als ihre politische Identität und als das gemeinsame Sinnzentrum ihres politischen Handelns betrachtet. Zur Klärung dieser Zusammenhänge ist eine Unterscheidung der wichtigsten Ebenen kultureller Identität hilfreich:
Die Ebene der metaphysischen Sinngebungen und Heilserwartungen (ways of believing). Bei diesen Orientierungen handelte es sich um das, was im Kern aller Weltanschauungen und Religionen steht, nämlich ein Angebot an Wegen für individuelle und kollektive Lebens- und Heilsgewissheiten.
Die Ebene der individuellen und kollektiven Lebensführung, also der Lebensweisen und der Alltagskultur (ways of life). Dabei handelt es sich insbesondere um Praktiken, Gewohnheiten, Ethiken der Lebensweise, Rituale, Umgangsformen, Lebensästhetiken, Essgewohnheiten und vieles andere mehr, überwiegend um Orientierungen der praktischen Lebensführung und deren expressiven Symbole, also all das, was in aller Regel zuerst an einer anderen Kultur ins Auge sticht und häufig besonders nachhaltig die Gewohnheit der Menschen prägt, die mit den entsprechenden Praktiken und Routinen aufgewachsen sind.
Die Ebene der sozialen und politischen Grundwerte des Zusammenlebens mit anderen (ways of living together). Hierbei handelt es sich vor allem um die Grundwerte für das Zusammenleben verschiedenartiger Menschen in derselben Gesellschaft und demselben politischen Gemeinwesen, also um die sozialen politischen Grundwerte im engeren Sinne, wie etwa die Bevorzugung von Gleichheit oder Ungleichheit, Individualismus oder Kollektivismus.
Es zeigt sich nun in der empirischen Betrachtung aller zeitgenössischen Kulturen, dass Individuen und Kollektive, die die kulturellen Orientierungen der Ebene 1 miteinander teilen, äußerst unterschiedlicher Einstellung auf den Ebenen 2 und 3 sein können, ebenso wie Menschen aus tiefliegender Überzeugung die Normen der Ebene 3 teilen können, ohne auf den anderen beiden Ebenen Gemeinsamkeiten miteinander zu haben. Es liegt auf der Hand und wird vor allem von der neueren Alltagskultur- und Milieuforschung immer aufs Neue bestätigt, dass etwa zwei gläubige protestantische Christen (Ebene 1) in unserer eigenen Gesellschaft extrem unterschiedliche alltagskulturelle Lebensweisen wählen können, der eine z. B. eine „kleinbürgerliche“, der andere eine „alternative“, in ihren sozialen und politischen Grundwerten dann aber wieder übereinstimmen könnten, z.B. in einer egalitären-liberal Position oder auch entgegengesetzte Positionen vertreten können, der eine z.B. egalitär-liberal, der andere antiegalitär-illiberal. Die bisher vorliegenden empirischen Studien belegen, dass diese Art der Entkoppelung der drei kulturellen Ebenen in allen großen Kulturkreisen der Gegenwart zu beobachten ist, wobei der Islam dabei keineswegs eine Ausnahme bildet.
Eine partikulare Kollektiv-Ethik bzw. Weltanschauung an die Stelle von Moral, Recht und Sittlichkeit der politischen Kultur des demokratischen Rechtsstaats zu setzen, die für alle gelten, definiert den Kern des modernen Fundamentalismus und schließt ihn darum als legitimen Teilhaber am kulturellen Pluralismus aus, denn seine Bekenner können die kulturellen Norme, Werte und Praktiken der pluralistischen Demokratie nicht wirklich akzeptieren. Gleiches gilt für ein Verständnis von „Leitkultur“, das von den neu Hinzukommenden die Übernahme der Gesamtkultur des Aufnahmelandes erwartet, einschließlich ihrer privaten Dimensionen des Glaubens und der Lebensführung, denn dies wäre ein fundamentalistischer Übergriff auf die Rechte und anerkennungsfähigen Identitäten anderer von Seiten der Mehrheitskultur selbst.
Ein republikanischer Kosmopolitismus
Eine Integrationspolitik, die zu einem Brückenschlag zwischen „kosmopolitischen“ und „kommunitaristischen“ Positionen in der Lage wäre, müsste folglich eine am skizzierten Integrationsbegriff orientierte Strategie glaubwürdig und konsequent praktizieren, denn nur eine von allen geteilte gemeinsame öffentliche Kultur garantiert allen die Räume für eine nach eigener Wahl praktizierte Glaubens- und Lebenskultur. Der Brückenschlag, den unsere Gesellschaft heute dringend braucht, verlangt also als erstes zu verstehen, was falsch läuft an der Globalisierung und unserem Umgang mit ihren Folgen in der Gesellschaft. Und dann: die Widersprüche ernst nehmen, die sie hervorbringt und entschlossen entschärfen. Das verlangt, dass wir eine neue Form für die globale Kooperation, die Prozesse, die sie tragen und ihre Folgen in jedem Land finden, bei der die ganze Gesellschaft gewinnt — und zwar wirtschaftlich, kulturell und politisch. Dafür ist, worauf in diesem Text nicht näher eingegangen wurde, eine erhebliche Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage derjenigen Angehörigen der Alten Mittelklasse und der Neuen Arbeiterklasse erforderlich, die die Stagnation oder Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen als direkte Folge von erheblichen Importüberschüssen oder der Konkurrenz seitens großer Zahlen von Migranten erfahren. Es kann sonst passieren, dass uns der Rechtspopulismus schneller über den Kopf wächst, als wir es merken und eine Welle des nationalistischen Populismus in vielen Teilen der Welt jenes Mindestmaß an kosmopolitischer Kooperation zerstört, ohne das keines der drängenden Weltprobleme, vom Stopp des Klimawandels bis zum regulierten Welthandel und der Friedenssicherung, gelöst werden kann.
Für eine solche neue Politik ist der „republikanische Kosmopolitismus“ ein guter Leitbegriff. Er wurde von Immanuel Kant für die Vision der weltweiten „Föderation freier Staaten“ geprägt, die alle als Republiken, also national verfasst bleiben sollten mit dem zugehörigen Regime genauer Grenzkontrolle. Fremde haben in dieser Weltföderation ein weltbürgerliches „Besuchsrecht“, und die Bürger jeder Republik behalten das Recht, sie zum Bleiben einzuladen oder zur Rückkehr aufzufordern — außer in den Fällen, wo dies „ihren Untergang“ bedeuten könnte. Das genau ist gemeint, wenn von „republikanischem Kosmopolitismus“ die Rede ist (I. Kant, J. Nida-Rümelin). Die Republiken sind national verfasst und bestehen aus Bürgern, die durch ihre auf das Allgemein-Interesse gerichteten Tugenden ihr Gemeinwesen gegen alle partikulären Interessen mit demokratischem Geist erfüllen. Sie sind zugleich „kosmopolitisch“, weil sie die Gleichheit aller Bürger der Welt und ihrer grundlegenden Rechte voraussetzen, die in ihren jeweiligen nationalen Republiken garantiert sein müssen, damit die kosmopolitische Zusammenarbeit zwischen ihnen allen möglich wird. Alle Bürger der Welt haben ein Recht, jedes andere Land zu besuchen — die Entscheidung darüber, wie lange sie dort bleiben dürfen, liegt bei der Gemeinschaft der Bürger des jeweiligen Gastlandes — außer in den Fällen, wo eine Zurückweisung ihrem „Untergang“ gleich käme.

Prof. Dr. Thomas Meyer
Prof. Dr. Thomas Meyer, 1943 in Leipzig geboren, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund mit dem Schwerpunkt Demokratietheorie, Politische Theorie und Europa. Publizistisch tätig ist er vor allem als Mitherausgeber und Chefredakteur der politisch-kulturellen Zeitschrift „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“.