Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (AFuAMvD)

Aufklärung mit Fallstricken

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Aufklärung mit Fallstricken

Von Thomas R. Harting

Wir Freimauer sind stolz darauf, uns als „Kinder der Aufklärung“ zu bezeichnen. Doch ich möchte auch einige Fallstricke aufzeigen, auf die wir als Freimaurer im Umgang mit dem Begriff „Aufklärung“ achten sollten, welche Gefahren sich auftun können, wenn man allzu unkritisch wichtigen fundamentalen Forderungen der Aufklärung folgt.

Kant erläutert uns in seinem berühmten Aufsatz „Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung?“ von 1784, was Aufklärung sei — nämlich: „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Unmündigkeit, so wird im Folgenden erklärt, sei „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen“. Und selbstverschuldet sei eben diese Unmündigkeit, weil sie nicht aus Mangel an Verstand erfolgt sei, sondern aus Angst davor, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Ferner sei es bequem, unmündig zu sein, die Unmündigkeit resultiert also aus „Faulheit“. Kant ergänzt dazu noch aus „Feigheit“, wohl um zu betonen, dass es Mut erfordert, sich gegen herrschende Meinungen zu behaupten und eine Antithese aufzustellen. Diese Definition Kants ist bis heute gültig.

Aufklärung ist somit die Maxime, also der Grundsatz, „jederzeit selbst zu denken“. Kant fordert daher: Sapere audere — wage es, selbst zu denken oder: Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Damit ist auch gemeint, gegebene Umstände zu hinterfragen; die Antwort: „Das wurde schon immer so gemacht“ oder „Das macht man so“, reicht einem aufgeklärten Geist nicht als Antwort.

Wer fragt, lügt nicht?

Der aufgeklärte Mensch will nicht einfach alles nachplappern, er will rational versuchen, Sachverhalte zu verstehen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Er will Sachverhalte hinterfragen — man kann ja viel behaupten, wenn der Tag lang ist — und er ist stolz darauf, wenn er dies tut. Er will also Fragen stellen. Ziel ist es, neue Antworten zu bekommen. Natürlich gibt es unbequeme Fragen, denen aus dem Wege geht, wer etwas zu verbergen hat oder wer sich autoritär durchsetzen will. Fragen muss man stellen dürfen — und auch damit leben können, dass nicht alle befriedigend beantwortet werden — es kann ja auch ein Erkenntnisprozess sein. Aber leider gibt es auch bei Fragen eine Kehrseite. Das arme Gretchen musste dies später feststellen, nachdem sie Faust die Frage stellte, was er von Religion halte – anscheinend spürte sie, dass mit Faust etwas nicht stimmte. Anstatt ihr die Wahrheit zu sagen, er könne mit Religion nichts anfangen, weicht er aus, indem er Fragen stellt: „Mein Liebchen, wer darf sagen: Ich glaube an Gott? (…) Wer darf ihn nennen? Und wer bekennen: Ich glaub ihn?“ Faust stellt Gretchen so viele Gegen-Fragen (er hat ja neben Philosophie, Juristerei und Medizin auch Theologie studiert), dass das arme Mädchen vollkommen verwirrt wird, ihre Bedenken werden zerstreut und wie man weiß: Die Tragödie nimmt ihren Lauf. Wer fragt, kann nicht der Lüge überführt werden (es gibt ja keine wahren oder falschen Fragen), man wirkt tiefsinniger, als man vielleicht ist, man muss auch nichts beweisen. Wer fragt, sucht Antworten — zumindest wird das suggeriert. Antworten müssen andere liefern. Fragen können so Diskurse prägen, steuern und auch manipulieren. Ein gewünschtes Ergebnis lässt sich durchaus herbeifragen, unerwünschte Ergebnisse können hinweggefragt werden. Im Englischen spricht man von „loaded questions“, von mit Unterstellungen beladenen Fragen. Beliebt ist dabei die Verbindung mit „Whataboutism“ — „Aber was ist mit …?“ Frauen werden beruflich benachteiligt, das ist kein Geheimnis mehr. Ist diese Erkenntnis unbequem, fragt man: „Und was ist mit benachteiligten Männern?“ Am besten hat man auch noch ein Beispiel parat, das verallgemeinert wird. Und ja, entgegen der allgemeinen Volksweisheit gibt es auch dumme Frage, z.B.: Haben Zebras schwarze oder weiße Streifen? Meine Freundin will Schluss machen, ich auch, was sollen wir tun?

Was ist eine Meinung?

Also — auch Fragen können zu Dogmatismus führen — und sie sind nicht immer so harmlos, wie sie scheinen. Und auch nicht immer so tiefsinnig, wie sie vorgeben. Also: Wer viel fragt, ist nicht automatisch ein unbequemer Querdenker, der berechtigterweise auf Probleme aufmerksam macht. Manchmal ist er auch einfach nur ein Verschwörungstheoretiker, der genauso im Strom schwimmt, wie viele andere auch, nur dass er meint, er schwimme gegen den Strom. Wer meint, eine Maske sei nun der Beginn einer Diktatur, der sollte sich einmal anschauen, wie Diktaturen funktionieren: Man muss nicht in die deutsche Geschichte gehen, Anschauungsmaterial gibt es auch in der Gegenwart reichlich: Belarus, China, Myanmar. Gegner von Diktaturen werden eingesperrt, werden gefoltert und hingerichtet oder verschwinden einfach.

Eng mit diesem Thema verwandt ist die Meinungsfreiheit. In einer Demokratie ist man frei (innerhalb der Gesetze) und man darf meinen und sagen, was man will. Aber auch das ist nicht so einfach. Zunächst darf ich niemanden persönlich beleidigen oder den Ruf eines Anderen ohne nachweisbare Fakten beschädigen. Zu untersuchen ist auch, was eine Meinung eigentlich ausmacht. Denn nicht alles, was ich von mir gebe, ist eine Meinung. Eine Meinung muss begründbar sein, sie muss argumentativ belegbar und widerlegbar sein, sie muss einer Diskussion standhalten können. Ansonsten verkommt die vorgebliche „Meinung“ zu bloßem Geschwätz. Wenn ich hier und jetzt auf einen Bruder zeige und ihm sage, ich mag seinen gelben Pulli, wird er mich darauf aufmerksam machen, dass er an einer freimaurerischen Arbeit teilnimmt und schon deswegen keinen gelben Pulli trage. Wenn ich aber darauf beharre und sage: „Ich werde das wohl nochmal sagen dürfen und meiner Meinung nach trägst du einen gelben Pulli“, so mache ich mich bestenfalls lächerlich, schlimmstenfalls wird ein Arzt gerufen. Das ist zugegebenermaßen ein banales Beispiel, das sich aber übertragen lässt. Nicht banal ist es beispielsweise, wenn jemand meint, die Reichsflagge stehe für einen friedlichen Staat.

Klare Kante zeigen

Natürlich ist für den aufgeklärten Menschen Toleranz sehr wichtig. Intoleranz ist ein Zeichen der unaufgeklärten Zeit, als es zum Beispiel in der Religion ein „Richtig“ und ein „Falsch“ gab. Entweder glaubt man das Richtige und wird dafür mit dem ewigen Leben belohnt — oder man glaubt das Falsche und wird mit der ewigen Verdammnis bestraft. Ein aufgeklärter Mensch kann religiös sein —, auch wenn Hume dem vielleicht widersprechen würde —, aber er ist kein Fundamentalist und lässt andere Meinungen — auch andere religiöse — stehen. Toleranz kommt von “tolerare” — erdulden, ertragen. Tolerant bin ich, wenn ich die Meinung eines Anderen dulde, vielleicht gerade so ertrage, weil ich eben nicht seiner Meinung bin. Es hat jedoch nichts mit Toleranz zu tun, wenn ich aus Bequemlichkeit oder Angst einer Meinung nicht widerspreche, wenn ich keine Grenzen setze, obwohl ich etwas nicht mehr erdulden und ertragen kann. Diese Grenzen sind also auszuloten und jeder Einzelne muss hier vor sich selbst Rechenschaft ablegen.

Wenn sich jemand einer humanistischen Sichtweise verschrieben hat, dann hört wohl Toleranz immer dort auf, wo radikale, menschenverachtende Parolen geäußert werden. Wer so etwas einfach hinnimmt, macht sich schuldig, wenn eben dieses Gedankengut Schule macht und sich in der Gemeinschaft ausbreitet. Ein toleranter Mensch muss also in der Lage sein, klare Kante bei bestimmten Themen zu zeigen — tut er es nicht, ist er eben nicht tolerant, sondern gleichgültig oder sogar ignorant. Ansonsten wird Toleranz beliebig.

Unsere Aufgabe als Freimaurer sollte es wohl daher sein, echte Fragen von suggestiven, „loaded questions“ unterscheiden zu lernen. Wir sollten uns darin üben, Meinungen durch Diskussionen aufzubauen und zu hinterfragen (unter oben genannten Bedingungen) und auch tolerant zu sein (auch im Sinne der oben genannten Bedingungen). So können wir vielleicht tatsächlich als Freimaurer einen Beitrag dazu leisten, dass die Gesellschaft aufgeklärter wird. Aber wie ist dies zu bewerkstelligen? Kann eine Loge hier Raum geben? Soll sie es? Wäre es sinnvoll? Und ist es überhaupt gewollt? Ich freue mich auf die Diskussion!

In diesem Sinne hoffe ich, dass ihr meine Fragen und Meinungen tolerieren könnt, auch wenn ihr einzelne Aspekte ablehnt oder sogar gänzlich anderer Meinung seid!