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Authentisch zu sein – was heißt das für den Freimaurer heute?

© LunaKate / envato.com

Von Christian Meier


Glaubt man Umfragen zum Thema „Was wünschen sich Menschen für ihr Auftreten in der Öffentlichkeit bzw. für ihre Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit?“, dann erhält man immer öfter die folgende Antwort: „Ich möchte authentisch sein“ bzw. „Ich möchte, dass die Leute von mir sagen: Der ist authentisch!“ Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass kaum ein Begriff die moderne Literatur, insbesondere die Selbsthilfe- und Ratgeberliteratur, so sehr durchzieht wie der Begriff „Authentizität“.

Was bedeutet er? Der Begriff „Authentizität“ bedeutet „Echtheit“, „Zuverlässigkeit“ oder „Verbürgtheit“. Er leitet sich ab vom griechischen Wort „authentes“ (der Urheber). In der Kanzleisprache des 16. Jahrhunderts tauchte der Begriff erstmals auf.

Authentisch kann etwa eine Unterschrift sein oder ein Kunstwerk, im Unterschied zur Fälschung oder Kopie. Personen empfinden wir oft dann als authentisch, wenn wir sie als aufrichtig, individuell und selbstbestimmt erleben. Eine authentische Person, so denken wir, handelt im Einklang mit ihren Überzeugungen, Wertvorstellungen und Gefühlen — kurzum mit ihrem „wahren Selbst“.
Doch Authentizität ist keine Eigenschaft, die einer Person objektiv zukommt, wie etwa einem Tisch die Eigenschaft, eckig oder rund zu sein. Wir sagen nicht von jemandem, er sei „authentisch“, so wie wir sagen, er sei blond, gebildet oder sportlich. Wenn wir jemandem Authentizität zuschreiben, dann meinen wir eine Meta-Eigenschaft: Eine authentische Person „ist“ ebenso, wie sie wirklich ist, sie stimmt in gewissem Sinne mit sich überein.

Authentizität hat also etwas mit Wahrheit zu tun.

Doch für Personen gibt es kein Echtheitszertifikat: Aus dem Verhalten einer Person können wir nicht auf ihr „wahres Selbst“ schließen. Authentizität braucht einen Kontrast — das Unechte, den Schein, die Konformität. Eine authentische Person fällt auf, weil sie sich von anderen unterscheidet. Wären alle authentisch, könnten wir womöglich gar nicht verstehen, was Authentizität überhaupt heißt.

Authentizität ist offenbar etwas, das wir suchen, erstreben oder vermissen — also ein Wert oder gar Ideal. Was, so könnte man salopp fragen, ist denn so faszinierend daran, authentisch zu sein?

Das Authentizitätsideal ist eine moderne Vorstellung. Zwar forderten schon Sokrates wie das Orakel von Delphi: „Erkenne dich selbst.“ Doch die Menschen der Antike hatten dabei nicht das individuelle Selbst im Sinn, von dem wir heute sprechen. Sie begriffen sich nicht als Individuen wie wir, sondern als Teil einer naturgegebenen Ordnung der Dinge. Ein Soldat war eben ein Soldat, ein Tischler ein Tischler. Ein gutes Leben führen, das hieß, seine Pflichten zu erfüllen, sich einzufügen in einen höheren, göttlichen Plan.
Was wir heute unter „Authentizität“ verstehen, wäre den Griechen damals wohl ebenso wenig verständlich gewesen wie den Menschen des Mittelalters. Erst in der modernen „entzauberten“ Welt formte sich das Bild vom erkennenden und handelnden Subjekt — und damit schließlich vom Individuum, das seine eigenen Vorstellungen vom Leben realisiert.

Unsere heutige Idee der Authentizität wurzelt im 18. Jahrhundert, in der Welt der Aufklärung. Die Romantiker propagierten damals eine neue Innerlichkeit, eine radikale Subjektivität: Nicht die Vernunft führe zur Wahrheit, sondern das Gefühl. Man verherrlichte das Unverfälschte der Natur, die unverwechselbare Originalität des Individuums. Mit den Worten Johann Gottfried Herders (1744–1803): „Jeder Mensch hat sein eigenes Maß, gleichsam seine eigene Stimme aller sinnlichen Gefühle zueinander.“
Keiner betrieb eine so rückhaltlose Selbstbeschau wie der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). In seinen „Bekenntnissen“ suchte er über 800 Seiten lang nach seinem wahren authentischen Selbst. Seinen Lesern versprach er nichts weniger als „beispiellose Wahrhaftigkeit“, ein ungeschöntes Bild von sich selbst, das einen Menschen zeigen sollte, „wie er innerlich war“. Nur an seinem „Gefühl des Daseins“ wollte er sich orientieren, an seinen subjektiven Empfindungen: „Ich fühle mein Herz.“ — „Je sens mon coeur.“

Und doch scheiterte der Philosoph an seinem Anspruch totaler Authentizität. Am Ende seines Lebens musste er zugeben, dass er eben doch vieles schöngefärbt, ausgelassen oder verzerrt hatte: „Wie oft hatte ich doch Erfundenes als wahr hingestellt, und das zu einer Zeit, als ich erfüllt war vom Stolz auf meine Wahrheitsliebe“, schrieb er in seinen „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“.

Die Fixierung auf sein „wahres Selbst“ trieb Rousseau schließlich immer mehr in die Isolation. Der Authentizitäts-Apostel fühlte sich von der Welt missverstanden. Da Rousseau sich selbst für absolut wahrhaftig hielt, musste der Fehler aus seiner Sicht bei seinen Kritikern liegen, die ihn offenbar nicht verstanden — oder nicht verstehen wollten. „Ich glaube, dass er ernsthaft versucht, das Bild von sich selbst in wahren Farben zu malen“, so schrieb der schottische Philosoph David Hume (1711–1776) über Rousseau: „Aber zugleich glaube ich, dass sich niemand weniger kennt als er selbst.“

Nach Auffassung des britischen Philosophen Bernard Williams (1929–2003) formt sich Identität und somit Authentizität nicht allein durch Ehrlichkeit gegenüber sich selbst, sondern auch — und vielleicht sogar besonders nachhaltig — durch soziale Kommunikation. Nur im Austausch mit anderen lernt man, sich als Person mit beständigen Ansichten und Überzeugungen darzustellen und zu erfahren, ob man als authentisch wahrgenommen wird.

Diese Annahme lenkt den Blick zielgerichtet auf die Freimaurerei.

Die Kernaufgabe unseres Bundes in der heutigen Gesellschaft ist die Suche nach einer unverwechselbaren, kraftvollen Authentizität. Hinter dieser Feststellung steht die teils gefühlte, teils bewusst gemachte Einsicht, dass die Freimaurerei weder ohne Wissen darum, was sie ist und was sie sein sollte, noch ohne immer neue Versuche, in die Gesellschaft hineinzuwirken, auf Dauer nicht bestehen kann.

Meistens beruft sich die Freimaurerei dabei auf das Positive ihrer Geschichte, d.h. auf ihren um die Begriffe Menschlichkeit, Brüderlichkeit und Toleranz kreisenden Wertekanon und verdrängt dabei negative und diffuse Erscheinungsbilder.
Ein ethischer Bund, der sich selbst ernst nimmt und der von der Gesellschaft ernst genommen werden will, darf so nicht verfahren. Er muss sich nach der Tragfähigkeit seiner Authentizität in Konzeption und Wirklichkeit befragen lassen.

Nach Authentizität — als einem selbstbewussten Einssein mit sich selbst — muss sowohl für den einzelnen Freimaurer als auch für die verschiedenen freimaurerischen Gruppen — Loge, Großloge, Leitungsgremien etc. — gefragt werden. Was zunächst die individuelle freimaurerische Authentizität betrifft, so hat ein Freimaurer dann Authentizität, wenn er überzeugend, fundiert, redlich und erkennbar hinter seinen freimaurerischen Vorstellungen steht und wenn sich seine freimaurerischen Auffassungen auch im Alltag bewähren.
Je größer die Zahl der Brüder mit überzeugender freimaurerischer Authentizität ist, desto besser lassen sich die Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben des Bundes lösen. Die Freimaurer müssen sich folglich um diese individuelle maurerische Authentizität bemühen, auch wenn sie dabei immer wieder Rückschläge erleiden. Der Raue Stein bleibt für sie ein treffsicheres Symbol.

Über die Werkzeuge zur Authentizitätsfindung verfügt die Freimaurerei in reichem Maße, sei es die tolerante Mitmenschlichkeit in der Loge, sei es der kritisch-selbstkritische Diskurs der Brüder, sei es das Ritual, in dem es ja im Grunde um nichts anderes geht als um die die Bestimmung, Einübung und Verinnerlichung von Authentizität. Werden diese Werkzeuge richtig eingesetzt, dann sind für den authentischen Freimaurer drei Merkmale kennzeichnend:

  • Ein Gefühl, mit sich selbst im Einklang zu sein;
    ein Gefühl von Wertschätzung und Respekt seitens der Brüder und vice versa;
    eine positive Einstellung zu den Aufgaben und Herausforderungen, die auf ihn als Freimaurer im profanen Leben warten.
  • Die Authentizität freimaurerischer Gruppen setzt sich jeweils aus zwei Komponenten zusammen: Aus inhaltlichen Elementen wie Zielvorstellungen und Formen sowie aus der Art und Weise, wie diese inhaltlichen Elemente in der Arbeit der jeweiligen Gruppen umgesetzt werden.

Hier sind menschliche Atmosphäre, intellektuelle und emotionale Lebendigkeit, Einsatzbereitschaft, Teamfähigkeit, Diskursqualität und Ausstrahlung wichtige Werkzeuge der Authentizitätsfindung freimaurerischer Gruppen.
Die Authentizität der Freimaurerei steht in einem Spannungsverhältnis. Zum einen bedeutet Authentizität gegenüber dem masonischen Selbstbildnis kritisch zu sein, zum anderen bedeutet sie aber außerdem, für etwas zu stehen und die eigene Sache standhaft zu vertreten, und zwar auch gegen Widerstände.

Eine authentische Freimaurerei existiert nicht auf der einsamen Insel des Logenhauses, sondern hat sich dort zu zeigen und zu bewähren, wo es „brennt“, d.h. mitten im Leben. Eine derart authentische Freimaurerei ist für eine offene, pluralistische Gesellschaft in Deutschland unverzichtbar.

Deshalb: Meine Brüder, ein jeder von uns sollte sich der daraus erwachsenden Aufgaben stets bewusst sein und konsequent danach handeln!

Diese Zeichnung wurde in der Tempelarbeit anlässlich der 70. Jahrestagung der Forschungsloge Quatuor Coronati am 9. Juli 2022 in Arnstadt aufgelegt.

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 6-2022 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.