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Das Gesetz nur

kann uns Freiheit geben

Eine Zeichnung von Andreas Jonda

…auch zum Hören als Podcastfolge

Sprecher der Podcastfolge: Bjoern Krass-Koenitz

Wenn Sie ein Freimaurer sind, haben Sie schon oft im Ritual gehört, wie der Meister vom Stuhl sagt „das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“. Aber auch Nicht-Freimaurer könnten dieser einen Textzeile vielleicht etwas entnehmen. Deshalb lade ich Sie heute ein, mit mir auf einem (symbolischen) Spaziergang darüber nachzudenken.

In meinen Augen ist das nämlich eine Textzeile, die mehrdeutig oder zumindest interpretationsbedürftig ist. Ich denke, niemand von uns Freimaurern versteht an dieser Stelle das Wort „Gesetz“ im Sinne des Strafgesetzes, des Bürgerlichen Gesetzbuches oder auch des Grundgesetzes. Das würde ja auch keinen Sinn ergeben. Was aber kann gemeint sein? Wenn man sich anschaut, aus welchem Zusammenhang dieser Satz entnommen ist, weitet es das Bedeutungsfeld des Begriffes „Gesetz“ doch deutlich über Gesetze hinaus, die der Mensch geschaffen hat, um das menschliche Miteinander zu regeln.

Es handelt sich bei dem zitierten Satz um den Schluss des Sonetts „Natur und Kunst“ von Johann Wolfgang von Goethe:

Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemeßnen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

So ist‘s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

Zur Entstehungsgeschichte dieses Gedichts weiß man nicht viel, Goethe hat es wohl um 1800 geschrieben und 1802 dann in das Vorspiel „Was wir bringen“ für das Theater in Bad Lauchstädt eingefügt. Dieses Vorspiel erschien auch im Druck, während Goethe dieses Sonett in die Gedichtausgaben, die er selbst noch herausgegeben hat, nicht aufgenommen hat.

In den ersten Versen stellt Goethe den Gegensatz zwischen Natur und Kunst heraus, also zwischen dem, was wir in der Welt vorfinden und dem, was wir durch unsere Tätigkeiten daraus machen (ohne dass ich an dieser Stelle auf Goethes Natur- oder Kunstbegriff näher eingehen könnte, die wesentlich differenzierter sind). Aber auch wenn diese beiden Begriffen sich einander auszuschließen scheinen („sie scheinen sich zu fliehen“), gehört sie doch beide zum Ich des Dichters und müssen demnach in irgendeiner Form in seine Persönlichkeit integriert werden.

In der zweiten Strophe fordert er den Leser dazu auf, sich in „abgemeßnen“ Stunden intensiv mit der Kunst zu beschäftigen, wobei zu beachten ist, dass damit im 18. Jahrhundert nicht unbedingt die Kunst in ihrem heutigen Wortsinn gemeint war, sondern tatsächlich all das, was die Menschen „künstlich“ geschaffen haben. Diese intensive Beschäftigung soll nun nicht im Sinne einer theoretischen Betrachtung erfolgen, sondern der Mensch muss sich an die Kunst „binden“, also sie verinnerlichen und ausüben. Ich verstehe diesen Vers so, dass der Mensch ähnlich wie im Faust gefordert ist, das, was er gelernt hat, wozu er bestimmt ist, sinnvoll und sorgfältig zu verrichten („Tut nicht ein braver Mann genug, / Die Kunst, die man ihm übertrug, / Gewissenhaft und pünktlich auszuüben?“). Erst dann „mag frei Natur im Herzen wieder glühen“, vielleicht ist das Wort „mag“, mit dem der Vers beginnt, ja sogar als „soll“ zu verstehen, ohne die gewissenhafte Ausübung der (beruflichen) Tätigkeit muss die Natur im Menschen, also alles ungeformte, man könnte auch sagen ungebildete, zurücktreten.

Und damit kommen wir zur dritten Strophe. Sie handelt von der Bildung, die Voraussetzung ist für das Erreichen „reiner Höhe“, wobei Goethe offen lässt, was mit dieser reinen Höhe gemeint ist. Auf jeden Fall wird die „Bildung“, die er zu Beginn der Strophe erwähnt, nicht formale Bildung im Sinne einer Schul- oder Hochschulbildung sein, sondern die Formung der ursprünglich ungebundnen Geister, die für das Erreichen der reinen Höhe Voraussetzung ist.

In der letzten Strophe fasst der Dichter diesen Gedankengang noch einmal zusammen, indem er die beiden polaren Grundprinzipien „Natur“ und „Kunst“ durch das Bild einer Bewegung ersetzt: Erst muss die zusammenziehende Bewegung des Zusammenraffens da sein, bevor sich die weitende Öffnung zeigen kann, in der der Meister das „Große“ schaffen kann. Auch hier bleibt wieder offen, was das „Große“ sein kann. Ich denke, das muss jeder für sich herausfinden, es wird für jeden etwas anderes sein. Ob es wirklich darum geht ein Kunstwerk zu schaffen, dass die Jahrhunderte überdauern wird, ob das Ziel der Nobelpreis ist oder auch nur tagtäglich seinem Beruf nachzugehen und dort sein Bestes zu geben, können nur wir selber herausfinden.

Übrigens ist diese letzte Strophe deutlich von der Freundschaft zu Schiller und der intensiven Auseinandersetzung mit ihm geprägt, der in seiner Philosophie das Schöne als harmonische Synthese von Sinnlichkeit und Vernunft, Freiheit und Gesetz ansah, so dass der Mensch durch das Ästhetische zur wahren Humanität kommen kann. Ich verweise hier nur auf die Säule der Schönheit in unseren Tempeln.

Aber um auf den Beginn meines Vortrags zurückzukommen, noch einmal die Frage: Was ist mit dem Gesetz gemeint? In Zusammenhang des Gedichtes handelt es sich nicht um irgendein von Menschen geschriebenes Gesetz, auch nicht ein göttliches Gesetz. Vielmehr ist das Gesetz hier im Sinne eines Elementes zu verstehen, das im Zusammenhang mit seinem Gegenspieler (der Freiheit) unser Tun und Schaffen immer bestimmt, es geht nur darum, ob wir einer Seite mehr Gewicht einräumen als der anderen oder ob wir eine Seite ganz verneinen und so tun, als gäbe es sie nicht. Ich meine hier das Gegensatzpaar, das schon zu Goethes Zeit, z. B. bei Schelling, mit den Begriffen „apollinisch“ und „dionysisch“ bezeichnet wurde. Lange nach Goethe hat Nietzsche 1872 in seinem Werk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ dieses Begriffspaar verwendet, um zwei gegensätzliche Charakterzüge des Menschen zu beschreiben. Er bedient sich dazu gleicherweise der den griechischen Göttern Apollon und Dionysos zugeschriebenen Eigenschaften. Hierbei steht apollinisch für Form und Ordnung und dionysisch für das Rauschhafte und einen alle Formen sprengenden Schöpfungsdrang.

Wenn wir also das „Gesetz“ bei Goethe als das formende und ordnende Prinzip verstehen und „Natur“ als den alle Formen sprengenden Schöpfungsdrang, kommen wir weit über die landläufige Bedeutung von Gesetz hinaus. Igor Strawinsky schreibt 1942 in seiner „Poétique musicale“: „Die Vollendung oder Kristallisation eines Kunstwerkes verlangt, dass alle jene dionysischen Elemente, welche den Komponisten anregen und seine Einbildungskraft in Bewegung setzen, entsprechend kontrolliert werden, ehe wir uns ihrem Fieber überlassen. Sie müssen der Disziplin untergeordnet werden: dies ist das Gebot des Apoll.“

Und wem diese Deutung des Gesetzes als zu weit hergeholt erscheint, den möchte ich auf eine Interpretation des Goethe-Sonetts aus der Feder des Schriftstellers Günter Kunert verweisen, welche die Überschrift trägt: „Triumph über die eigenen Triebe“. Kunert setzt die „Natur“ des Gedichts mit der „der Kultivation noch nicht erschlossene(n) Innenwelt des Menschen“ gleich, „seiner eigene(n) Triebstruktur. Erst wenn diese gezähmt und in Dienst genommen und durch Selbstzwänge »zivilisiert« worden ist, darf ihr Restbestand als kunstnotwendiges Element weiterwähren.“

Ich weiß nicht, ob ich bei der Interpretation des Gedichtes soweit ginge wie Kunert, aber er trifft mit Sicherheit ins Schwarze, wenn er im Folgenden Goethe eine Neigung unterstellt, „spruchartig“ allgemeingültige Weisheiten zu formulieren, die letztlich doch nur Goethes eigene Erfahrungen widergeben und keineswegs direkt vom Himmel gefallene Götterworte sind.

Natürlich weist Kunert hier Goethe absolut korrekt eine starke Neigung zur Selbststilisierung nach und verweigert ihm in diesem Zusammenhang glatt das Recht, prophetenhaft weise Sprüche als unumstößliche Regeln zu formulieren. In diesem speziellen Fall ist es übrigens eine Regel, die Goethe knapp 30 Jahre zuvor, in seiner Sturm und Drang-Zeit erbittert abgelehnt hätte. Uns bleibt trotzdem der Satz, den wir Freimaurer aus dem Ritual kennen: „das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“.

Ich finde, Goethe hat hier etwas den Menschen Prägendes formuliert, das zu Recht Eingang in das Ritual gefunden hat. Beschäftigt uns nicht ständig oder zumindest sehr oft die Frage, warum ausgerechnet wir als „freie Männer“ so strengen, teilweise antiquiert wirkenden Regeln unterworfen sind? Oder, um es genauer zu formulieren, uns diesen Regeln aus freien Stücken unterwerfen? Wir tragen (in manchen Logen) altmodische Hüte, reden uns wie mittelalterliche Mönche mit „Bruder“ an und lernen brav auswendig, wie man einen Distriktsmeister, einen zugeordneten Großmeister und einen Großmeister anzureden hat, die man vor der Tempelarbeit und auch danach selbstverständlich mit Vornamen anredet und mit Du. In der Tempelarbeit achten wir genau auf die möglichst exakte Einhaltung des Rituals und rümpfen möglicherweise die Nase, wenn Brüder anderer Logen auch nur ein Wort im Ritual verändern. Wir unterwerfen uns also einer strengen Form, man könnte auch sagen, wir beachten das Gesetz, ehren das Apollinische, um dadurch zur Freiheit zu gelangen. Sie sehen, dass Goethe-Zitat sagt zwar nichts über das Ziel unserer Arbeit aus, auch Goethe benennt das Ziel in seinem Gedicht ja nur sehr vage. Aber es beschreibt den Weg zwischen den beiden Polen der Freiheit und des Gesetzes, der Natur und der Kunst oder des Dionysischen und des Apollinischen.

Der rechte Weg zum „Großen“, wie immer es beschaffen sein mag, geht laut Goethe unbedingt erst einmal von einer Beachtung des Gesetzes, der Wahrung der Form, der Beachtung der Pflicht aus. Erst dann darf das Entgrenzende hinzutreten. Es darf nicht am Anfang stehen, und es darf auch nicht alleine herrschen, denn das Dionysische alleine, ohne jede feste Form und Grenze, würde, wenn ich es recht verstehe, zu Beliebigkeit und Chaos führen. Aber es muss der Erstarrung, die dem rein Apollinischen innewohnt, die schöpferische Öffnung geben, die letztlich zur wahren Freiheit führen kann.

Goethe formuliert es anderer Stelle, in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“, so: „Der Mensch ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst seine Begrenzung bestimmt.“ Könnte das jenes „Große“ sein, das er im Gedicht nicht näher bestimmt? Das Glück des Menschen? Ich weiß es nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass wir hier einen Hinweis finden, wo wir nach dem „Großen“ suchen könnten, jedenfalls wenn wir das Glück nicht allzu egoistisch nur für uns suchen, denn die „Vollendung reiner Höhe“ nur in unserem persönlichen Glück zu suchen, ohne den Blick für die Not um uns her, scheint mir eine Sackgasse zu sein, die uns nicht zu Höherem führt.

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