…das eigene – und das der anderen
Muss man immer Recht behalten, auch wenn man Recht hat? — Helmut Schmidt und Henry Kissinger waren Politiker, die sich in vielen Punkten sehr gut verstanden und oft ähnliche politische Ansichten hatten. Allerdings waren auch sie oft nicht einer Meinung und verwendeten für diese Situationen den Satz, der inzwischen in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist: „We agree to disagree.“ Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind. Damit wird für beide manifestiert, dass es Standpunkte gibt, die nicht zusammengeführt werden können. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung, dass in solchen Situationen beide das Gesicht verlieren, hat keiner von beiden sein Gesicht verloren. Aber: Haben sie Lösungen gefunden? Immerhin, für uns Europäer hat das Handeln beider Politiker zur Wahrung des Friedens in Europa beigetragen und Henry Kissinger spielte eine wichtige Rolle bei der Beendigung des Vietnamkrieges. Kann also manchmal ein „Agree to Disagree“ gut sein?
Wie so oft stellen sich auch beim Durchsetzen der eigenen Meinung und des eigenen Standpunktes die Fragen: Wo ist die Grenze? Wie weit kann ich gehen? Wie weit will ich gehen? Wie weit darf ich gehen? Und: Wie weit muss ich gehen?
Bei der Redewendung “Das Gesicht wahren” geht es um den Schutz des Ansehens, der Ehre oder der Reputation einer Person, einer Gruppe oder einer Organisation. Der Begriff kann somit je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen haben:
Im privaten Kontext bezieht sich “das Gesicht wahren” darauf, das eigene Ansehen oder die eigene Ehre zu schützen, indem man sich in einer bestimmten Situation angemessen verhält oder sich in schwierigen Situationen zurückhält, um Konflikte zu vermeiden und Harmonie zu bewahren. Zum Beispiel könnte jemand “sein Gesicht wahren”, indem er in einem Streit ruhig bleibt, um keine öffentliche Demütigung zu erleiden. Oder er handelt, um die öffentliche Demütigung eines Kontrahenten, eines Widersachers oder auch “nur“ eines Gesprächspartners zu vermeiden.
Im geschäftlichen Kontext bezieht sich “das Gesicht wahren” neben der persönlichen Komponente darauf, das Ansehen eines Unternehmens oder einer Organisation zu schützen, indem man in schwierigen Situationen professionell bleibt und sich um Schadensbegrenzung bemüht. Dies kann bedeuten, dass man Fehler zugibt, sich bei andern im Unternehmen oder außerhalb entschuldigt, oder Verantwortung übernimmt, um das Vertrauen der Belegschaft, der Öffentlichkeit oder der Kunden nicht zu verlieren.
Im gesellschaftspolitischen Kontext kann “das Gesicht wahren” bedeuten, dass politische Akteure oder Regierungen versuchen, ihr Ansehen in der Öffentlichkeit zu bewahren, indem sie sich in Krisen oder Konfliktsituationen diplomatisch verhalten, um internationale Beziehungen nicht zu gefährden oder das Vertrauen der Bevölkerung nicht zu verlieren. Dies kann bedeuten, dass man in Verhandlungen Kompromisse eingeht oder Konflikte deeskalieren lässt, um das eigene Ansehen zu wahren und diplomatische Beziehungen zu erhalten. Viele Politiker beharren aber auf Ihrer Meinung und auf der Richtigkeit ihrer Handlungen, auch wenn die ganze Welt schon weiß, dass man auf der falschen Seite steht und Fehler begangen hat. Politiker beharren dann, vielleicht aus Angst das Gesicht zu verlieren auf ihrer Meinung. Es werden tausende Menschenleben in Kauf genommen, um einen bereits eingetretenen Gesichtsverlust zu vermeiden. Verstehen können dieses Verhalten wahrscheinlich nur die wenigsten. Vermutlich deshalb sprechen Psychiater davon, dass es in Konzernvorständen und Politischen Gremien die Dichte an psychisch Kranken erschreckend hoch sei.
In allen diesen Kontexten geht es darum, das eigene Ansehen, die Ehre oder die Reputation zu schützen, indem man sich in schwierigen Situationen angemessen verhält, Konflikte vermeidet und das Vertrauen anderer bewahrt. “Das Gesicht wahren” beinhaltet oft auch den Schutz des Ansehens anderer Personen oder Organisationen und das Streben nach Harmonie und diplomatischer Lösung von Konflikten.
In unserer Gesellschaft, in der das Streben nach Recht und Gerechtigkeit eine zentrale Rolle spielt, ist die Frage, ob man immer Recht behalten muss, auch wenn man im Recht ist – oder sich im Recht glaubt, von großer Bedeutung und doch wird die Frage, ob man gerade jetzt Recht behalten muss, zu selten gestellt.
Diese Frage „Muss ich jetzt Recht behalten“ wirft ein Licht auf die Art und Weise, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen und wie wir unsere eigenen Überzeugungen vertreten. Im Kontext der Tugend der Toleranz ist diese Frage von besonderem Interesse, da sie die Grundprinzipien des freimaurerischen Denkens herausfordert. Ich möchte versuchen zu beleuchten, wie diese Tugenden dazu beitragen können, das Gesicht sowohl des Einzelnen als auch der Gemeinschaft zu wahren, und ob es Fälle gibt, in denen es wichtiger ist, die Beziehung zu wahren als Recht zu behalten.
Toleranz: Die Kunst des Respekts vor der Meinung anderer
Toleranz ist eine der grundlegenden freimaurerischen Tugenden und ein wesentlicher Bestandteil einer harmonischen Gesellschaft. Sie erfordert die Fähigkeit, die Meinungen und Überzeugungen anderer zu respektieren, auch wenn man selbst anderer Meinung ist. In einer Welt, in der die Menschen immer öfter dazu neigen, in ihren Überzeugungen zu verharren und andere Meinungen abzulehnen und sogar denjenigen der eine andere Meinung hat persönlich anzufeinden, ist Toleranz ein entscheidender Baustein für ein friedliches Zusammenleben.
Ein Beispiel dafür, wie Toleranz in der Öffentlichkeit zum Tragen kommt oder besser zum Tragen kommen könnte, sind politische Diskussionen. In der Politik treffen oft unterschiedliche Ideologien und Überzeugungen aufeinander, und es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen in diesen Diskussionen hartnäckig an ihren oft ideologisch geformten Standpunkten festhalten, obwohl man inhaltlich doch nahe beieinander ist. Gerade in einer Demokratie ist es wichtig, die Meinungen anderer zu respektieren, auch wenn man selbst anderer Meinung ist. Ein Politiker, der Toleranz zeigt und die Meinungen seiner Gegner respektiert, wird eher in der Lage sein, Kompromisse zu finden und eine gemeinsame Basis zu finden, um Probleme zu lösen. Ein Verhalten, das leider immer seltener zu finden ist.
Auch im persönlichen Umfeld ist Toleranz von großer Bedeutung. In Beziehungen und Familien gibt es oft unterschiedliche Meinungen und Überzeugungen, die zu Konflikten führen können. Doch wenn jedes Familienmitglied hartnäckig darauf besteht, Recht zu behalten, kann das zu Spannungen und Konflikten führen, die die Beziehungen untereinander belasten. In solchen Situationen ist es wichtig, zuerst zuzuhören, was manchmal schwerfällt. Und es ist oft auch wichtig, zum Zuhören aufzufordern, Toleranz zu zeigen und die Meinungen und Überzeugungen der anderen Familienmitglieder zu verstehen und zu respektieren, auch wenn man anderer Meinung ist. Nur dadurch wird es möglich, Konflikte zu lösen und ein harmonisches Familienleben zu führen.
Jetzt haben wir viel gelesen über Toleranz und die Wahrung des eigenen Gesichts und das unserer Gegenüber. Über das Vertreten von Standpunkten und das Beharren auf Meinungen.
Und oft genug würde sich die Frage stellen: Ist der Standpunkt, den ich gerade vertreten will oder von dem ich glaube, ihn vertreten zu müssen, überhaupt richtig? Ja, der Konjunktiv ist richtig, „oft genug würde sich die Frage stellen“. Denn: Stellen wir uns die Frage, ob unser Standpunkt, unsere Meinung richtig ist, überhaupt oft genug?
Wäre es der Beginn einer wunderbaren Welt, wenn wir alle uns diese Frage öfter stellen würden?
Christoph Zametzer
Aufgenommen 2007 in der Loge „Zu den drei Rosen am Inn“, zum Gesellen befördert in 2008 und im Jahr 2009 zum Meister erhoben. Von der Gründung der „Phoenix aus den drei Flammen“ bis 2016 war er ZM, von 2016 bis 2019 MvSt und seit 2024 Redner.
Lieber Br. Christoph,
Danke für deine prägnante Zeichnung zu einem immer wiederkehrenden und spannenden Thema. Sie liest sich wunderbar und hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Ich sende dir Brüderliche Grüße.
dein Br. Ralph
Wahrhaft ein sehr guter Beitrag.
Besonders als Lehrling, den wir ja bekanntlich immer in uns haben, ist das ein bemerkenswerter und nachweislich erfolgreicher Ansatz.
Den eigenen Standpunkt hinterfragen, dass ist schon eine besondere Herausforderung. Das gelingt nur dann, wenn wir einen solchen überhaupt haben.
Wenn es uns gelingt, in verschiedenen Diskursen einen solchen zu erarbeiten, dass kann es uns auch eine Gewohnheit werden, die uns täglich begleitet.
Offenheit und Vertrauen sind ein gutes Rüstzeug, auch wenn es gelegentlich von anderen missbraucht enttäuscht wird.
Lieber Bruder Christoph,
schön, auf diesem Wege von Dir zu hören. Deinem Beitrag stimme ich gerne zu, das verstehe ich auch unter der “Königlichen Kunst” in der Praxis.
Brüderliche Grüße aus Deiner Nachbarloge i.O. Traunstein.