Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (AFuAMvD)

Das Kerzengespräch

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Das Kerzengespräch

Von Br. Philip Militz

Foto: Cosma / Adobe Stock

Hat sich schon mal jemand gefragt, warum im 21. Jahrhundert immer noch Menschen beim Meditieren lieber in eine Kerzenflamme starren, statt ins Licht einer LED-Birne? Warum schleppen wir nach wie vor säckeweise „Glimma“-Teelichter aus dem IKEA nach Hause, obwohl deren elektrifizierte Schwester „Mognad“ wirtschaftlich gesehen auf Dauer die bessere Partie ist? Mognads mangelnder Wärmewert kann’s nicht allein sein. Wir sind kein Volk von Teetrinkern. Nein, die Antwort ist vermutlich so naheliegend, dass sich die bislang niemand ernsthaft die Frage gestellt hat, obwohl es sich lohnt: Was hat Glimma, was Mognad nicht hat? Ganz einfach: Mehr Sein, als Schein!

Der Blick in eine echte Flamme hat etwas Magisches. Selbst dann, wenn es kein knisterndes Kamin- oder Lagerfeuer ist und man eigentlich gar nicht an Magie glaubt. Feuer lässt keinen kalt. Weder Kinder noch Erwachsene. An Kamin- und Lagerfeuern tauen Unterkühlte auf, Hitzköpfe kommen zur Ruhe. Flammen, echte Flammen, haben etwas Hypnotisches. Sie berühren etwas in uns, das tief verwurzelt ist. Seit Menschen das Feuer gezähmt haben, hat es sich in die Mythen und Symbole unserer Kulturen, Religionen, Sprachen gebrannt. Und in unser Unterbewusstsein. Besonders eindrucksvoll lässt sich das am Lagerfeuer beobachten: Lagerfeuer leuchten die hintersten Winkel unserer Seelen aus. Nur wenige können sich dem entziehen.

Wenn es um einen herum dunkel ist und irgendwo ein Feuer brennt, rückt man fast zwangsläufig näher zusammen. So entsteht unter freiem Himmel eine Art geschützter Raum. Man öffnet sich, offenbart sich vielleicht sogar.  Der Blick in die Flammen macht den Blick eng und den Geist weit: Der Alltag wird ausgeblendet, die Gedanken gehen auf Wanderschaft. Und so ist es vermutlich seit Zehntausenden von Jahren.

Licht ins Dunkel der Kerzengespräche

Wer die schwierige Suche nach dem Ursprung der freimaurerischen Kerzengespräche beginnt, kann nicht ahnen, dass diese enge Verbindung zur „­Lagerfeuer-Atmosphäre“ kein Zufall ist.

Wikipedia liefert zum Thema Kerzengespräch zwar einen Treffer, kennt aber nur den Ablauf:

„Dabei sitzen die Teilnehmer in einem (oft abgedunkelten) Raum. Zuerst wird das Thema skizziert. Der erste Diskutant hält eine brennende Kerze in der Hand, die er, sobald er seinen Beitrag beendet hat, an den nächsten Teilnehmer weiterreicht. Solange der Sprecher die Kerze in der Hand hält, kann er weitersprechen, während die anderen schweigen.
Gespräche in dieser Form sind nicht geeignet, Entscheidungen einer Gruppe zu treffen, da das Gespräch selbst das Ziel ist und nicht die Feststellung einer herrschenden Meinung oder eines mehrheitsfähigen Kompromisses. Die freimaurerischen Gespräche finden nur intern statt; gemeinsam mit Gästen werden Gespräche in dieser Art nicht praktiziert.“

Im „Deutschen Freimaurerlexikon“ von Reinhold Dosch sind einige detaillierte Angaben zum Ablauf zu finden:

„Das Kerzengespräch ist eine neuerliche Logenveranstaltung in Deutschland, die wie folgt abläuft: Die Brüder sitzen an einer großen, gemeinsamen Tafel. Der Raum ist abgedunkelt. Vor dem Meister vom Stuhl (LM) steht eine brennende Kerze. Dann nennt dieser ein Thema, das meist nicht vorher bekannt ist, und spricht einige einleitende Sätze. Anschließend gibt er die Kerze an seinen Nachbarn. Dieser sagt zu diesem Thema das, was ihm am Herzen liegt oder spontan einfällt. Wenn er seine Gedanken geäußert hat, reicht er die Kerze an seinen Nachbarn weiter – bis diese schließlich wieder beim Meister vom Stuhl (LM) ankommt und dieser ein Schlusswort spricht.
Folgende Regeln sind zu beachten: Nur der Bruder, bei dem die Kerze steht, darf sprechen; und zwar solange, wie er möchte. Alle anderen müssen schweigen. Falls ein Bruder nichts sagen will, gibt er die Kerze seinem Nachbarn weiter. Manchmal kann es zweckmäßig sein, die Kerze eine zweite Runde wandern zu lassen.
Kerzengespräche sind dann sinnvoll, wenn in der Loge unterschwellig Probleme kontrovers betrachtet, aber nicht ausgesprochen werden. Die Möglichkeit, dass jeder wirklich unbeeinflusst zu Wort kommt (und nicht nur die Vielsprecher), gibt ein sehr zutreffendes Meinungsbild der Brüder und fördert die Disziplin des Zuhörens.“

Wer sich auf den Weg macht, der Spur der Kerzengespräche durchs Dickicht der Geschichte zu folgen, landet irgendwann bei der „Weißen Lilie“. Eine Loge, die sogar vielen Freimaurer-Brüdern unserer Tage unbekannt ist, obwohl sie etwas ganz Besonderes ist: 1960 in Würzburg gegründet, damit vergleichsweise jung und eine sogenannte „Wanderloge“. Die Bezeichnung ist Programm: Die Logentreffen finden an wechselnden Orten statt.

Auch die namengebende Lilie ist kein Zufall. Die Loge wurde u. a. von Pfadfindern gegründet, die nicht nur eine Lilie als Logo haben, sondern auch einen Teil des besonderen „Logen-Spirits“ hervorbrachten.

Sind die Ursprünge in der Pfadfinderbewegung zu suchen?

Br. Gerhart Groß, gewissermaßen ein Zeitzeuge mit engem Kontakt zu alten „Lilienbrüdern“, war einer der wenigen Brüder, die aus ihrer Erinnerung Erhellendes zur „Weißen Lilie“ und zu den Kerzengesprächen zu berichten hatten:

„Ihre Gründungsmitglieder entstammten allesamt der sog. Jugendbewegung, und bis heute kommen sie aus allen drei deutschen Obödienzen oder ausländischen Logen.
Zu den, ich will nicht sagen Ritualen, aber den formenden Besonderheiten der Jugendbewegung zählte das offene, freundschaftliche Gespräch am Lagerfeuer, beim Blick in die tanzenden Flammen das freie Laufenlassen der Gedanken. Das Licht dieses Feuers ist nicht das Licht im Osten, das Licht der Wahrheit. Es ist das Licht in uns selbst, von dem unsere ureigenen Gedanken ausgehen. So verstanden es die Gründer der „Weißen Lilie“. Weil nun schlechterdings in geschlossenen Logenräumen keine Lagerfeuer entzündet werden sollten, wurde das große Feuer auf eine im Rund wandernde Kerze reduziert und damit das Lagerfeuergespräch zum Kerzengespräch – allerdings die Idee, die Gedanken frei laufen zu lassen, blieb erhalten.“

Br. Hartmut Schröder, aktuell Archivar der „Weißen Lilie“, hat sich extra die Mühe gemacht, noch einmal alte Logenprotokolle durchzuarbeiten. Und siehe da: Das erste Kerzengespräch fand in der „Weißen Lilie“ am 16. April 1966 statt. Aber: Es war offenbar nicht das erste Kerzengespräch überhaupt. Laut Protokoll wurde die Gesprächsform von der Berliner Loge „König Salomo zur weißen Lilie“ übernommen. Und da Hartmut – ganz Freimaurer – es genauer wissen wollte, hat er auch drei Zeitzeugen und Brüder der heute nicht mehr existierenden Berliner Loge aufgespürt.

Alle drei sind sich sicher, dass das Kerzengespräch vor 1966 in der Salomo-Loge entwickelt und nicht aus der Pfadfinderschaft übernommen wurde. Interessanterweise liefert auch die Google-Suche nach den Begriffen „Pfadfinder“ und „Kerzengespräche“ keine Treffer. An die genaueren Umstände kann sich jedoch keiner der drei Befragten mehr erinnern – der Betagteste ist inzwischen fast 100 Jahre alt.

Es bleibt also letztlich doch ein wenig „Dunkel im Licht“. Wir dürfen auch hier der freimaurerischen Fantasie wieder freien Lauf lassen. Und wer ein Auge zudrückt, kann nun sogar schelmisch behaupten: Die Spur der Kerzengespräche führt zu „König Salomon“.

Auch wenn also bislang kaum jemand die genauen Hintergründe kannte und es bis heute keinen ritualisierten Ablauf für Kerzengespräche gibt, haben sie sich weit verbreitet.

Bislang sind sie noch ein deutsches Phänomen und werden fast ausschließlich unter Logenmitgliedern durchgeführt.
Es ist vielleicht etwas hoch gegriffen, aber Kerzengespräche könnten die Welt wirklich zu einem etwas besseren Ort machen. Wieviel friedlicher wäre unser Zusammenleben, wenn wir lernen würden, wieder mehr zuzuhören und andere Meinungen auszuhalten, statt immer Recht haben zu wollen. Genau dafür sind Kerzengespräche ein hervorragendes Trainings-Werkzeug.

Buchtipp:
Philip Militz
Freimaurerisches Kerzengespräch
Salier Verlag, Leipzig, 2019,
ISBN 978-3-96285-016-6, 1. Auflage 2019
Broschüre, 40 Seiten, DIN A 6, Preis: 8,00 EUR

Der Beitrag entstammt der Zeitschrift “HUMANITÄT — Das Deutsche Freimaurermagazin”, Ausgabe 3-2019.