Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (AFuAMvD)

Das Symbol des 24-zölligen Maßstabs

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© annca / Pixabay

Von den Puhdys, einer ostdeutschen Kultband, stammt der Soundtrack zu dem 1973 veröffentlichten Film „Die Legende von Paul und Paula“. Das Lied „Wenn ein Mensch lebt“ besitzt dabei einen außergewöhnlich bewegenden Text, geschrieben von Ulrich Plenzdorf.

„Jegliches hat seine Zeit,
Steine sammeln, Steine verstreuen,
Bäume pflanze, Bäume abhauen,
Leben und Sterben und Streit.“

Die Vorlage dazu findet sich jedoch schon im Alten Testament in den Texten des Predigers Salomo:
„Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit;
abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat eine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.“

Die Zeit mit Weisheit einzuteilen, das ist die Forderung, die das Symbol des 24-zölligen Maßstabs an uns stellt. Jeder von uns denkt und redet mehrmals am Tag über die Zeit: „Ich habe keine Zeit“ oder „ich habe heute Zeit“ für dieses oder jenes. Aber wenn ich mich frage: Was ist denn eigentlich die Zeit?, dann gerate ich schon ins Stocken. Gut, es ist eine physikalische Größe, man kann mit ihr rechnen. Die Wirtschaft, der Verkehr, die Arbeit, ja unser ganzes Leben ist danach und von ihr eingeteilt, also gibt es sie. Das wird niemand bestreiten. Aber was weiß ich denn wirklich über sie, über die Zeit? Ich kann Zeit nicht schmecken, nicht hören, nicht sehen, nicht fühlen und nicht anfassen. Ja, wir können die Zeit nicht einmal direkt messen, so wie man zum Beispiel eine Menge abwiegen kann. Wir messen die Zeit nur indirekt, indem wir die Menge der Sandkörner in einer Sanduhr messen oder die Bewegung des Zeigers auf dem Zifferblatt einer Uhr oder die scheinbare Bewegung der Sonne oder des Mondes am Firmament. Und von dem Messen dieser verschiedenen Abstände des sich bewegenden Gegenstandes schließen wir auf die Zeit, die vergangen ist. Das ist nach allen unseren Erfahrungen auch richtig und führt zu überprüfbaren Ergebnissen. Aber die Zeit, die tatsächliche Zeit können wir nicht messen. Ja wir wissen nicht einmal, ob die Zeit kommt und vergeht oder ob sie nicht vielmehr einfach da ist. Zieht die Zeit an uns vorüber, wie der ständige Strom eines Flusses? Oder bewegen wir uns an der Zeit entlang und die Zeit steht wie ein stabiler Strang von einer Ewigkeit zur anderen Ewigkeit?

Früher fuhren auf vielen Flüssen Kettendampfer. Auf dem Grunde des Flusses zog sich eine sehr lange Kette entlang, die am Bug des Dampfers über eine Welle aufgenommen und am Heck wieder hinabgelassen wurde. Das Schiff zog sich an dieser Kette gewissermaßen bergauf. Ziehen wir uns in unserem Leben gewissermaßen auch an einer Kette entlang, deren einzelne Glieder wir jeweils Gegenwart nennen, einem unbekannten Ziel entgegen? Sozusagen von einer Gegenwart zur nächsten Gegenwart?

Wir teilen unsere Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein. Die Vergangenheit ist das, was hinter uns liegt und woran wir uns, wenigstens teilweise und meist sehr subjektiv, erinnern können. Zukunft liegt vor uns und ist uns von der Erfahrung her noch unbekannt. Sie ist der Ort der Hoffnungen und Befürchtungen. Soweit ganz einfach. Aber was ist nun eigentlich die Gegenwart? In dem Moment, in dem ich diesen Satz denke und aufschreibe, ist er schon Vergangenheit und nicht mehr Gegenwart. Die Gegenwart scheint fast unmessbar kurz zu sein, denn kaum ist sie da, vergeht sie sofort und wird Vergangenheit.

Es kann ja sein, dass das fast unnütze Gedanken sind, „ohne Nährwert“, würde meine Großmutter sagen, aber vielleicht doch bedenkenswert. Leibniz schreibt: „Die Zeit ist die Ordnung des nicht zugleich existierenden. Sie ist somit die allgemeine Ordnung der Veränderungen.“ Das klingt einleuchtend, aber bin ich deshalb wirklich klüger? „Zeit ist eine Erscheinung, die sich in Form von Tag und Nacht darstellt“, schrieb Sextus Empiricus im zweiten Jahrhundert, aber bringt uns das weiter?

Augustinus schrieb in seinen Confessiones: „Was also ist ‚Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“ Dieser Satz kommt meinem Gefühl der Zeit gegenüber deutlich am nächsten.
Und warum ist die Wahrnehmung der Zeit in unserem eigenen Leben, in unseren Lebensabschnitten so unterschiedlich?

Rasend schnell ist die Zeit vorbei, wenn wir in einer angeregten und zufriedenen Runde miteinander sind. Scheinbar lang und ewig erstreckt sie sich in einem langweiligen Vortrag. Als ganz furchtbar empfinde ich, dass man im Alter des Lebens die Zeit als rasend schnell vorübergleitend wahrnimmt. Ehe man es sich versieht, ist schon wieder ein Jahr vorüber. Als Kind dagegen schien mir die Zeit vom 20. Dezember bis zum Heiligen Abend überhaupt nicht zu vergehen. „Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die Zeit vorüber, in der man kann“, sagte Marie von Ebner-Eschenbach. Manchmal sprechen wir von einer Beschäftigung als von einem „Zeitvertreib“. Eigentlich ein schlimmer Begriff, denn haben wir so viel Lebenszeit, dass wir sie auch noch vertreiben möchten? Wohl kaum, denke ich. Auch Seneca schrieb dazu: „Nein, nicht gering ist die Zeit, die uns zu Gebote steht; wir lassen nur viel davon verloren gehen!“

Die Zeit erscheint wie ein riesiger feststehender Fels, neben dem alles andere herum winzig und in ständiger Bewegung ist. Ist die Zeit ewig? Und noch zaghafter gefragt: Ist die Zeit vielleicht Gott? Oder eine Erscheinungsform von Gott?

Mir ist bewusst, dass diese Gedanken höchst unfertig sind. Ich habe den Versuch unternommen, über etwas nachzudenken, was eigentlich nicht zu fassen ist. Daher muss es notwendigerweise unvollkommen bleiben. Und dennoch scheint mir die Zeit als etwas, über das es sich lohnt nachzudenken, denn wir alle sind immer mitten in der Zeit. Letztendlich ist unsere Lebenszeit das einzige, was wir wirklich besitzen.

Wie oft sagten oder dachten wir schon: „Die Zeit vergeht.“ Welch ein Irrtum! Nicht die Zeit vergeht – wir sind es, die vergehen. Die Zeit bleibt.

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 6-2019 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.