Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (AFuAMvD)

Die Freimaurerei und der Pieks

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Die Freimaurerei und der Pieks

Von Marius Stefan-Moser

Impfgegner und Impfbefürworter: Welche sind die wahren Brüder?

Der Nächste! Der Nächste! Der Nächste! Soll ich? Soll ich nicht? Der hat doch auch noch nicht! Der Bruder aber schon. Als Freimaurer muss ich, ist doch klar! Und wenn ich doch Bedenken habe? Kann ich mich dann noch blicken lassen? Ist das dann nicht eher unbrüderlich?

Vielleicht ist der eine oder andere Satz bei einigen von euch im Zusammenhang mit der Corona-Impfung bereits im Kopf herumgeschwirrt, mich würde wundern, wenn nicht.
Doch wie gehen wir mit den Dimensionen des Bruderbegriffs um, gerade jetzt, in Zeiten großer gesellschaftlicher Meinungsspaltung, welche ja auch vor unseren Logen keineswegs Halt macht? Wie soll ich mich in der Pandemie verhalten, wenn ich dabei dennoch freimaurerisch, gar brüderlich sein möchte? Was ist das überhaupt noch mal gleich genau: „Brüderlichkeit“?

Sprachwissenschaftlich betrachtet gilt das althochdeutsche Wort „Brouder“ seit dem 8. Jahrhundert als belegt. Zunächst wurde mit diesem Begriff ein rein verwandtschaftliches Beziehungsverhältnis beschrieben, das bei Frauen ebenfalls durch das althochdeutsche Wort „Swester“ zum Ausdruck gebracht wurde.

So, wie verwandtschaftliche Brüder in familiären Strukturen oder auch die Mönchsbrüder in den Klöstern einen sicheren und geschützten Bereich vor dem Rest der Welt formen, so findet auch ein Freimaurer unter seinen Brüdern einen Rückzugsort vor der profanen Welt. Durch das Vertrauen-behaftete Umfeld unter den Brüdern lernt ein Freimaurer häufig, sich auf eine ganz neue Art zu öffnen und die tieferen Wahrheiten des Menschseins zu erkennen, die sich sonst hinter dem Schleier unserer Alltagsstrukturen verbergen.

Ist die Impfung die neue Initiation?

Doch wie steht es aktuell nach eineinhalb Jahren Pandemie um den freimaurerischen Bruderbegriff? Ich wurde erst kürzlich mit dem Satz konfrontiert, ein Bruder, der sich nicht impfen ließe, sei kein wahrer Bruder, sondern ein unsolidarischer Egomane. Ist dies wirklich so? Wie wollen wir gerade als Freimaurer damit umgehen, dass sich einige impfen lassen und andere nicht? Steht es uns überhaupt zu, darüber zu urteilen oder ist es gerade als Freimaurer unsere Pflicht, darüber zu reflektieren?
Immerhin gibt es auf den zweiten Blick durchaus einige interessante Analogien zwischen der Freimaurerei und der kontrovers diskutierten Thematik der Impfung.

Der Publizist und Psychologe Dr. Alexander Meschnig verfasste kürzlich einen Essay mit dem Titel „Die Corona-Impfung als Religion“, in dem er die Impfkampagne auf sakramentale sowie rituelle Charakterelemente hin untersuchte.
So fasst er dabei die oft durch Patienten erlebte Stimmung in der Arztpraxis zusammen: Man sitzt im Warteraum, erfüllt von einem Chaos der Gefühle, das sich aus Hoffnung auf eine Art anderen Lebensabschnitt einerseits und einer leichten Skepsis, vielleicht sogar Angst, andererseits zusammensetzt.

Dann, einen Pieks und 15 Warteminuten später, schreitet man aus der Praxis mit einem Gefühl der Erleichterung und der Euphorie, fast als hätte man die lange ersehnte Kommunion empfangen und gehöre nun zu einer großen neuen Gemeinschaft. Als würde einem das Leben nun ganz neue Erfahrungen, Perspektiven und vor allem Möglichkeiten bieten.

Ich musste direkt an das Aufnahmeritual der Freimaurerei denken, in dem der Novize ebenfalls derartige Gefühle in der dunklen Kammer durchlebt, quasi unserem Wartezimmer, bevor er das aufregende Aufnahmeritual im Tempel, also den Pieks im Behandlungsraum, durchläuft, an dessen Ende er sich aus der Dunkelheit heraus zum Licht begibt und sich in einer starken Gemeinschaft wiederfindet.

Wie ist dies aus freimaurerischer Sicht zu betrachten? Aus der Perspektive der Humanität, die unter anderem das selbstlose, menschenfreundliche Tätig sein für andere verkörpert, wäre es anzustreben, stets so zu handeln, dass damit auch das Wohl der Allgemeinheit gefördert wird. Da sich die Freimaurerei auf die Werte des Humanismus stützt, wäre also die logische Konsequenz, gerade als Freimaurer die Impfung zu befürworten.

Sind also nur Impfbefürworter wahre humanistische Freimaurer und die anderen entsprechend zu tadeln?

Hierfür müssen wir eine weitere Dimension der freimaurerischen Stützen berücksichtigen: die Aufklärung.
Der wohl bekannteste Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, prägte dabei einen berühmten, entscheidenden Satz: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Denken und handeln für das Wohl anderer, aber mit Vernunft

Mit anderen Worten: Denke selbst mithilfe deiner gottgegebenen Vernunft über die verschiedenen Herausforderungen und Probleme unseres Lebens nach. Reflektiere, statt blind zu gehorchen. Propagiere aber auch nach erfolgter Reflexion nicht ebenso blind, sondern stelle dich auf die stetige mögliche Erneuerung deines Standpunkts im Lichte neuer Erfahrungen ein.  Ihr seht, meine Brüder: Wir befinden uns in einem Dilemma.

Einerseits sollten wir uns als Freimaurer im Denken und Handeln für das Wohl der Menschen engagieren, andererseits sollen wir gerade im Denken und Handeln unabhängig von äußerer Doktrin auf Basis der eigenen Vernunft agieren — ein Vorgehen, das sowohl Impfbefürworter als auch Impfgegner für sich in Anspruch nehmen können. Jede Seite wird ihre wohl reflektierten und aus subjektiver Sicht logischen Argumente vortragen können.

Brüderlichkeit trotz gegensätzlicher Meinungen

Bestimmt sind viele Brüder derzeit verunsichert, wenn nicht überfordert, wie sie miteinander umgehen sollen, vor allem, wenn vielleicht sogar ein bisher besonders vertrauter Bruder plötzlich eine ganz andere Meinung vertritt.
Hier offenbart sich die wahre Dimension der Impfthematik für die Logen. Es geht nicht um die Diskussion, wer denn nun recht habe und wer nicht, sondern es geht um viel mehr: Nämlich zu zeigen, dass wir als Brüder in der Lage sind, trotz solch diverser Meinungsstandpunkte die Brüderlichkeit aufrechtzuerhalten. Dass wir die Meinungsvielfalt nicht als Barriere sehen, sondern als Chance, neue Perspektiven zu gewinnen.
Hierbei wird nämlich eine weitere Dimension der Freimaurerei sichtbar: die Toleranz. Toleranz leitet sich vom lateinischen Wort „tolerare“ ab, das „aushalten“ bedeutet. Es geht also letztlich darum, sich darin zu üben, eine andersartige Meinung wenigstens aushalten zu können, selbst wenn sie in diametralem Gegensatz zur eigenen steht.

Auch im Aufnahmeritual wird dies bereits mehrfach impliziert: So spricht der Meister vom Stuhl zum Novizen: „Ich nehme dich als Freimaurerlehrling an und auf.“ Dieser Satz ist entscheidend, da hierbei nicht nur von der formalen Aufnahme selbst gesprochen wird, sondern darüber hinaus klargemacht wird, dass der neue Lehrling mit all seinen individuellen Charakteristika auch angenommen und somit akzeptiert wird. Mit anderen Worten, man hält ihn als Charakter-Gesamtpaket aus.
Ich möchte daher meine Zeichnung mit folgendem Impuls abschließen: Lasst uns nicht einander verlieren! Dies ist eine Zeit der Kontroversen, ja. Aber es ist vor allem eine Zeit, in der wir uns selbst und den Brüdern beweisen können, was die wahre Stärke der Freimaurerei im Kern ist: Nämlich die Fähigkeit, meine Brüder mit all ihren unterschiedlichen Auffassungen und Eigenheiten anzunehmen und diese im freundschaftlichen Diskurs stets neu zu reflektieren, vor allem auszuhalten!
Dies ist die vielleicht härteste Arbeit seit Langem, ich weiß. Aber gerade der Arbeit haben wir uns ja auch bekanntermaßen verschrieben. Also, an die Arbeit, meine Brüder!

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 6-2021 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.