Die Loge, der Bruder — und ich?
Gelesen von Arne Heger
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Als klassischer Dirigent für Oper und Konzerte habe ich täglich mit der Beobachtung und Steuerung von Gruppenphänomenen zu tun. Als Führungskraft, als Manager kann ich gar nicht anders, als auch im Logenleben wahrzunehmen, wie wir als Brüder miteinander umgehen.
Da besuche ich in einem Orient eine Loge, ich besuche sie nach ein paar Monaten noch einmal und wieder ein paar Monate später ein weiteres Mal. Schon das zweite Mal hat – mitten in der Amtszeit – der Stuhlmeister gewechselt, und beim dritten Besuch ist auch dieser ersetzt durch einen anderen Altstuhlmeister, der nun im Osten sitzt – aber auch nur kommissarisch. Ein zumindest zwiespältiger Eindruck. Kontinuität und innerer Friede sehen anders aus.
In einer anderen Loge gehen zwei Brüder im profanen Leben per Rechtsanwalt gegeneinander vor. Der Streit wird nun auch innerhalb der Loge mit höchster beruflicher Professionalität ausgetragen, das Ehrengericht wird eingeschaltet – dort sitzen brave Brüder, im Streitschlichten sind sie jedoch Laien. Auch sie sind machtlos. Grüppchen- und Rudelbildung, jeder schart Gefolgsleute um sich, es folgen reihenweise Deckungen.
In einer weiteren Loge ist man froh, die Nachfolge des Meisters vom Stuhl geklärt zu haben. Nach einem Jahr macht sich Unmut breit über die unkonventionelle Art seines Führungsstils. Ich sitze bei einer Tafelloge – seine Handlungen, seine Wortwahl, sein Äußeres, seine Ritualarbeit werden von einigen älteren Brüdern immer wieder mit halblauten Kommentaren begleitet.
Manche Brüder Freimaurer meinen, wenn sie in die Loge gingen, wenn sie in der Loge seien, sei automatisch die Humanität ausgebrochen. Aber hier, bei uns in der Loge „drinnen“, muss sie genauso gepflegt und mühsam geübt werden, wie „draußen“!
„Ihre Meinung zählt“ – aber auch pure Gedankenlosigkeit
Moment mal – sollte brüderlicher Umgang innerhalb der Loge nicht selbstverständlich sein? Natürlich sollte er das. Ist er aber oft nicht. Und ich behaupte, dass das meistens gar nicht durch Mutwillen geschieht. Dass man nicht wissentlich dem anderen wehtut, stichelt, sich zu Grüppchen wohlmeinender Besserwisser und Parteigänger zusammenklumpt. Sondern, dass man einfach aus Achtlosigkeit in der Loge genau das macht, was man „draußen“ im profanen Leben auch tut. Und was so menschlich ist.
Im Vergleich zur Gesellschaft vor 200, 100, ach was: vor 40 Jahren genieße ich heute unglaublich große persönliche Freiheiten. Überall kann ich per Mausklick unmittelbar den Senf meiner persönlichen Meinung dazugeben – und mich gleich hinterher wieder in die Deckung der Anonymität zurückziehen, ohne Verantwortung für das zu übernehmen, was meine Worte anrichten. „Ihre Meinung zählt“, sagt die Hotline meiner Krankenversicherung. Ist es nicht hübsch bequem, dass es meine Meinung ist, die heutzutage überall zählt, in Bewertungsportalen, in Kommentaren, in Online-Umfragen?
Und diese Mechanismen des modernen Individuums finden in bloßer Gedankenlosigkeit oft auch innerhalb der Loge statt. Sollten wir da nicht bisweilen mehr Achtsamkeit an den Tag legen und dafür Sorge tragen, uns auch innerhalb der Loge als Freimaurer zu bewähren?
AUDI – VIDE – TACE. Hör – schau – schweig. Vielleicht lohnt es sich, das Schweigegebot einmal woanders hinzustellen, als es nur der profanen Welt gegenüber zu beherzigen. Was heißt das denn, dass wir geloben, „dem Hammerschlag des Meisters Folge zu leisten“? In früheren Gesellschaften, in denen das streng hierarchisch organisierte Handwerk im öffentlichen Leben und im gesellschaftlichen Bewusstsein mehr verankert war, brauchte man das nicht zu erläutern. Heute, im Zeitalter der Polarisierung und des „Empörialismus“ (Michael Schmidt-Salomon) muss man dies offenbar – und zwar nicht nur jungen Brüdern, sondern auch älteren Herren gegenüber, die sich manchmal regelrecht zu „Meckergreisen“ (Michael Serres) entwickeln.
Dem Hammerschlag des Meisters Folge zu leisten bedeutet doch nichts weiter als eine Übung in Selbstdisziplin. Dass jeder zu allem eine Meinung hat, vielleicht auch glaubt, dies oder das besser zu können, ist nun wirklich nichts Besonderes. Verbesserungsvorschläge? Tipps? Ratschläge? Es wird wohl unter vier Augen kaum einen Meister vom Stuhl oder einen einfachen Bruder geben, der dafür nicht ein offenes Ohr hätte. Vor allem dann, wenn ich als Bruder nicht nur theoretisch belehre, sondern gleichzeitig praktische Hilfe anbiete. Im Moment der Tempelarbeit oder bei offiziellen Logenanlässen gibt es für uns Brüder aber immer wieder grandiose Gelegenheiten, ab und zu einfach mal den Mund zu halten. Und diese Übung in Selbstdisziplin tut mir als Bruder gerade dann gut, wenn ich im profanen Leben als Führungskraft gewohnt bin, Anordnungen zu verteilen und andere nach meiner Pfeife tanzen zu lassen.
Oder wie wär’s damit, bei der nächsten Suche nach Beamten, den Aufsehern oder dem Meister vom Stuhl mal selber zu kandidieren, statt mich mit Kommentaren hervorzutun?
Gelegenheit, einfach mal den Mund zu halten
Es heißt: „Erkenne dich selbst!“ Es heißt nicht: „Verbessere den anderen!“ Es steht uns gut an, dieses Wort – das erste, das der Meister vom Stuhl uns im Tempel zuruft – sich ab und zu wieder in Erinnerung zu bringen. Und zwar als Richtschnur auch für unser Verhalten innerhalb der Loge! Sagt uns nicht vorher der 2. Aufseher, dies sei das Wort, das uns in die Mitte des Tempels bringe?
Und mahnt uns nicht der Zirkel zur Pflicht, unser Verhältnis zum anderen Menschen abzustecken – gegen jeden Menschen, aber insbesondere gegen einen Bruder?
„Allgemeine Unfreundlichkeiten sind von der Meinungsfreiheit geschützt“, so las ich es neulich in einer großen Tageszeitung (Jan Wittenbrink in „Die Welt“). Aber allgemeine Freundlichkeiten sind maurerischer, führen zu mehr Zusammenhalt und machen mir selbst mehr Spaß.
Hier also meine Anregung, sich ab und zu auch innerhalb der Loge ein klein wenig mehr als Gentleman zu zeigen, etwas mehr Understatement, ein paar Gramm mehr Zurückhaltung aufzuerlegen.
Brüderlichen Umgang auch in den Logen einüben
„Ein aufgeklärtes Denken zeichnet sich (…) nicht durch das Kritisieren aus, sondern dadurch, wie man mit Kritik der anderen Seiten umgeht“, schreibt Br. Arved Hübler in seinem Beitrag in der „Humanität“ 1/2018. „Wer die Kritik der anderen nutzt, um weiterzudenken, neue Erkenntnisse zu entwickeln und seine Meinung zu ändern, hat wahrscheinlich einen Erkenntnisvorteil gegenüber einem, der Kritik verhindert und abblockt, um seinen einmal erreichten Erkenntnisstand zu konservieren. Die ganz große Kunst ist dann die Selbstkritik, bei der man nicht warten will, bis jemand anderes Kritik anbringt, sondern man aus sich selbst heraus vorhandene Positionen kritisiert und damit weiterentwickelt.“
Dies sind die „Lehren und Pflichten“, von denen Br. Freiherr von Knigge spricht, auf die unsere Regeln des Umgangs miteinander gegründet sein müssen, und „die wir allen Arten von Menschen schuldig sind“. Brüderlicher Umgang muss also auch innerhalb der Loge bewusst gepflegt, achtsam eingeübt werden. Das kann manchmal bedeuten, sich mehr zurückzuhalten, weniger Aktivismus zu entfalten als im profanen Leben.
Manchmal bedeutet es aber auch das genaue Gegenteil. Ein Beispiel hierfür ist der oft gehörte Ausspruch, in der Loge sollten Gespräche über Religion oder Politik tabu sein. Dabei wird sich auf „Alten Pflichten“ von 1723 berufen, die Konstitution der ersten Großloge Englands. Als Maurer haben wir uns allerdings verpflichtet, das Dunkel der Unwissenheit zu erleuchten! Und daher lohnt es sich, hier genau hinzusehen: In den „Alten Pflichten“ wird nämlich mitnichten gefordert, Religion und Politik als Tabus zu behandeln! Lasst uns gemeinsam lesen, was dort wirklich steht: In Chapter VI, Paragraph 2 geht es – „Of Behaviour“ – um das Verhalten in geöffneter Loge und bei den sich anschließenden Treffen. Und hier in der Tat werden eine Reihe von Tätigkeiten genannt, die vermieden werden sollen. Das Verb „avoiding“ ist hier ganz klar. Was vermieden werden soll, sind „forcing any brother to eat or drink beyond his inclination, or hindering him from going when his Occasions call him, or doing or saying anything offensive …”. Und jetzt kommt die betreffende Stelle über Politik und Religion. Doch dort heißt es unmissverständlich: „Therefore no private Piques or Quarrels must be brought within the Door of the Lodge, far less any Quarrels about Religion, or Nations, or State Policy …”
Freier Gedankenaustausch statt Befolgen von Tabus
Piques: Kränkungen; Quarrels: Streitereien, Gezänk. Das oberste Prinzip, um das es Anderson geht, ist also: Streit, Kränkungen, Gezänk zu vermeiden. Und die sind tabu – nicht diejenigen Gespräche, die man im geistigen Austausch miteinander pflegt. Sofern sie in zivilisierter Weise geschehen! Und, wie um genau das nochmal zu bestätigen, steht bei Anderson zusätzlich, man solle vermeiden, „doing or saying anything offensive, or that may forbid an easy and free Conversation, for that would blast our Harmony …“ Ein Zweck des Logenmiteinanders besteht also in „easy and free conversations“ – im ungehinderten und freien Gedankenaustausch und nicht im Befolgen von Tabus. Tabu ist nur der beleidigende Umgang miteinander, „for that would blast our Harmony, and defeat our laudable Purposes. “ Denn dies würde unsere Harmonie sprengen, und unsere lobenswerten Absichten niederwerfen.
Und Anderson fügt an: „This Charge has been always strictly enjoin’d and observ’d; but especially ever since the Reformation in BRITAIN, or the Dissent and Secession of these Nations from the Communion of ROME.“ Absolut verständlich, denn die Loslösung der Anglikanischen Kirche von Rom war für Anderson nicht weiter entfernt als für uns der Erste Weltkrieg – also noch ziemlich lebendig.
Fazit: Es darf nicht gestritten werden. Aber über gesellschaftliche Themen und wenn es beliebt wohl auch über Metaphysik darf, ja sollte man sich austauschen!
Karl Popper formuliert es in seinem großen Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ so: „Wir halten die Diskussion nicht für einen Stein des Anstoßes, sondern für die unentbehrliche Voraussetzung zum weisen Handeln.“
Das, was die Polis angeht – die Gemeinde, die Stadt, die Gesellschaft, in die die Loge gestellt ist: also Politik –, darüber muss man sprechen. Und darüber darf man auch zivilisiert – als civis, als Bürger – wettstreiten. Widerstreit und Wettstreit der Meinungen ist höchstes Gut in der offenen Gesellschaft. Toleranz und Akzeptanz müssen geübt und verteidigt werden. Freie Meinungsäußerung bedeutet aber nicht gleich Zustimmungszwang! Wer seine Meinung sagt, muss aushalten – tolerieren –, dass der Andere eben möglicherweise anders tickt.
Offene Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihren Mitgliedern nicht nur einen höheren Toleranzraum gewähren, sondern ihnen auch ein höheres Maß an Toleranz abverlangen.
Michael Schmidt-Salomon
Wir als Freimaurer führen uns zurück auf die Ideale der Aufklärung. Wir als Freimaurer sind als Loge eine Blaupause für die Gesellschaft, in der wir leben wollen. „Wir als Freimaurer haben uns der Humanität verpflichtet, dem Prinzip der Einheit unter Gleichen, dem Prinzip der Einheit in der Vielfalt. Wir nehmen uns vor, dass jeder seinen Platz in der Gesellschaft einnimmt und ein wenig die Welt verbessern hilft. Wir treten ein für Würde, Gleichberechtigung und Miteinander. Wir bauen gemeinsam am Tempel der Humanität, übernehmen und teilen Rollen und entwickeln uns … [in diesem] Sinne weiter.“ Gedanken von Br. Gernot Nürnberger aus seinem Beitrag „Sieh dich um – die Bienen sind noch da!“ („Eleusis“ 2/2018).
Wenn ich was meine, muss ich aushalten, was andere dazu meinen! Dies gilt auch für die Loge und gerade auch innerhalb der Loge.
Lasst uns – als Freimaurer – nicht vergessen, dass unsere Logen einst in Zeiten der Zensur und der Spitzelei die Orte des freien Wortes waren. In einigen Zonen unseres wiedervereinigten Landes ist es gerade einmal 30 Jahre her, dass man Angst haben musste, frei zu reden! Und „Orte des freien Wortes“ bedeutete nicht, dass es sich um inhaltsleere Debattier-Clübchen handelte, und es hieß auch nicht, dass man unversöhnlich auseinanderging, weil man unterschiedliche Ansichten hatte und den anderen nicht missionieren konnte. Der einzelne Bruder ging bereichert nach Hause, weil er mit etwas in Berührung gekommen war, das ihm vielleicht fremd war, aber an dem er sich weiterentwickeln konnte – so oder so.
Nicht das Diskutieren macht uns handlungsunfähig. Das ist ein Trugschluss. Es macht uns viel unfähiger, wenn wir nicht mehr die Diskussion pflegen. Der Pluralismus der Meinungen schwächt uns nicht. Viel mehr schwächt uns, wenn wir nicht mehr debattieren.
Ein paar Regeln zum Umgang in der Loge
Die Logen waren einmal kreative Brutkästen, Plattformen des geistigen Austauschs, Laboratorien der Phantasie für die Weiterentwicklung der Gesellschaft. Und was sind sie heute? Darüber sich kultiviert auszutauschen, Ideen zu entwickeln, wie unsere Loge neu in unsere Stadt hineinwirkt, wie wir uns als Freimaurerloge „neu denken“ können, was wir für unsere Community bewirken können – das bedarf manchmal größerer Mühe und einer neuen Aktivität. Und ist dies nicht ein wichtiges Gespräch über Politik? Denn schlussendlich – wie schon Bruder Goethe sagte: „Im Anfang war die Tat“.
Machen wir es uns nicht zu bequem. Wofür tragen wir denn unsere Handschuhe? Doch wohl als Symbol, dass wir uns vor Arbeit nicht scheuen. Und diese Arbeit heißt: Arbeit im Kopf, UMDENKEN – und das ist auch heute noch genauso anstrengend wie für die Figuren aus Platons Höhlengleichnis, die nach jahrelanger Finsternis auf einmal ins Licht geführt werden.
Was heißt das jetzt unterm Strich für uns? Weniger tun oder mehr tun in der Loge? Mehr respektvolle Zurückhaltung oder mehr kreative Aktivität? Das kommt eben darauf an. Auch der Umgang unter Brüdern ist ein rauer Stein, an dem unermüdlich gearbeitet werden sollte. Es geht je nach Situation um beides: Sowohl um den Mut zum Widerspruch als auch um die Kraft, seinen Mund zu halten.
Wichtig ist das Bewusstsein, dass auch innerhalb der Loge brüderliches Verhalten, Humanität, Respekt, Wertschätzung nicht durch Zauberhand automatisch da sind. Sondern dass auch hier drinnen die Prinzipien der Königlichen Kunst gepflegt, geübt, kultiviert werden müssen. Von jedem einzelnen von uns.
Die Regeln dafür sind in der Loge die gleichen, die wir zur Pflege unserer offenen Gesellschaft kennen:
Auf der Sachebene: „Akzeptiere, dass alle das gleiche Recht haben wie du, ihre Meinung zu artikulieren.“
Im Umgang mit dem Bruder: „Betrachte andere Meinungen nicht von vornherein als Belästigung, sondern als Chance, dein Denken zu erweitern.
Habe Nachsicht mit Personen, respektiere Menschen als Menschen.“ (Michael Schmidt-Salomon)
Biete Hilfe an, wo du kannst. Nicht Belehrung! Denke immer daran: „Wie schwach ist der Einzelne. Wie stark ist die Gemeinschaft!“
„Ungeduld treibt uns voran. Aber Geduld führt uns zum Ziel.“ (Wolf Lotter in „Brand Eins“)
Und lasst uns nicht das Augenzwinkern vergessen. „Wer sich nicht selbst zum Besten haben kann – der ist gewiss nicht von den Besten.“ (Goethe)
Brüderlichkeit innerhalb der Loge ist anstrengend. Brüderliches Miteinander kommt nicht einfach so von selbst. Es muss geübt werden. Und wir müssen als lebenslange Lehrlinge herausfinden, ob wir selber bessere Vorbilder abgeben sollten – oder vielleicht ein wenig mehr guten Vorbildern nacheifern müssen.
Geht nicht nur hinaus ins Leben. Geht hinein in Eure Loge und bewährt Euch auch dort als Freimaurer. Kehrt niemals dem Anstand, der Wertschätzung und dem Respekt dem anderen Bruder gegenüber den Rücken. Seid wachsam auf euch selbst!