Die Systemrelevanz der Freimaurerei
Gelesen von Hasso Henke
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Aus meinem eigenen „alten“ Alltag kenne ich sowohl das Verwechslungspotenzial zwischen den Begriffen „Kunst“ und „Kultur“ als auch die Verwirrung um die Überschneidung der Definitionen dieser beiden Begriffe.
Was also ist Kunst, was ist Kultur?
Das Wort Kunst kommt etymologisch aus dem Althochdeutschen und bedeutet Wissen, Wissenschaft – oder auch „die Fertigkeit, zu können“. Der Begriff beinhaltet ein schöpferisches Gestalten aus den verschiedenen materiellen oder immateriellen Bausteinen, die dem Menschen zur Verfügung stehen, um sich schöpferisch mit der Welt auseinanderzusetzen. Kunst-Werke werden in der Regel nach ihrer Ästhetik oder emotionalen Ausdruckskraft bewertet. Auch wenn dies erst einmal nicht so erscheint, ist es ein ziemlich eng gefasster Begriff.
Der begriffliche Unterschied zwischen Kunst und Kultur
Der umgangssprachliche Aphorismus „Kunst kommt von Können und nicht von Wollen, sonst hieße es Wullst“, ist also viel tiefgründiger und wahrer, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Erstens beinhaltet er eine zwar offensichtliche, aber nicht unwichtige Dosis von Humor und Eigenironie. Zweitens ist er ein Beispiel für die Kunst (die Fähigkeit zu können), mit Hilfe von Worten (immaterielle Bausteine) eine neue Idee zu gestalten (schöpferisch tätig zu sein). Und drittens tritt der angenehme Nebeneffekt ein, dass die Etymologie, die in diesem Satz angesprochen wird, auch noch faktisch stimmt.
Kultur hingegen hat eine sehr weite Definition. Sie bezeichnet im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbstgestaltend hervorbringt, im Unterschied zu der von ihm weder geschaffenen noch veränderten Natur. Kultur beinhaltet also Kunstwerke, wie auch andere Bausteine, wie z. B. die Esskultur, Wohnkultur, Industriekultur etc.
Auch hier hilft (wie so oft) die eigentliche Etymologie des Wortes: Das lateinische „colere“ bedeutet „die Pflege“ und bezieht sich ursprünglich inhaltlich auf die Landwirtschaft. Der lateinische Begriff „cultura“ beinhaltet sowohl die Pflege des Landes als auch die Pflege des Körpers und des Geistes. In vielen romanischen Sprachen (und ebenso im Englischen) ist diese Wortherkunft bis heute im Begriff z. B. der Agrikultur erhalten.
Es lässt sich nicht über die Menschheit, wie sie nun seit Jahrtausenden existiert, reden, ohne über deren Kultur(en) zu reden. Selbst „primitive“ Jäger-und-Sammler-Völker der Alt- oder Neuzeit werden in ihren kulturellen Unterschieden zueinander und zur modernen Welt definiert. Albert Schweitzer schrieb dazu: „Kultur definiere ich ganz allein als geistigen und materiellen Fortschritt auf allen Gebieten, mit dem eine ethische Entwicklung der Menschen und der Menschheit einhergeht.“
Man kann also grob zusammenfassen: Alle Kunst ist in der Kultur enthalten, aber nicht alles was zur Kultur zählt, ist gleichzeitig Kunst.
Homo sapiens sapiens ohne Kunst und Kultur
So komme ich nun zu der uns in Zeiten des Corona-Lockdowns bewegenden Frage der Notwendigkeiten und Dringlichkeiten im modernen Leben. Gerne nehmen gerade die Politiker den Begriff der Systemrelevanz in den Mund, um zu erklären, welche Wirtschaftszweige dringender notwendig sind als andere. Und es wird sogar darüber gestritten, warum der einen Berufsbranche mehr finanzielle Hilfe zustehen sollte als der anderen.
Ganz außer Frage steht, dass bei einer Pandemie die Gesundheitssysteme unverzichtbar sind, ebenso die materielle Versorgung mit Lebensmitteln und damit die Agrikultur, also die Landwirtschaft, und der Handel mit deren Produkten. Auf die Sinnhaftigkeit, gerade die Gesundheitssysteme als wirtschaftliche, gewinnbringende Branche zu betrachten, will ich lieber gar nicht eingehen. Jeder von uns mag sich dazu seine eigene Meinung bilden.
Was ist nun aber not-wendig oder system-relevant? Da muss man, meiner Meinung nach, genauer hinschauen – sowohl bei der materiellen als auch bei der immateriellen Grundversorgung. Bei der Frage der „Systemrelevanz“ sollte erst einmal geklärt werden, welches System wir als Basis nehmen, um es zu definieren: Das Überleben der Spezies Homo sapiens sapiens oder das Überleben der Zivilisation – welcher auch immer? Wie sieht es demnach mit der Systemrelevanz von Kunst und Kultur aus?
Das System Homo sapiens sapiens braucht definitiv weder Kunst noch Kultur. Es ist – auch wenn ich mir mit so einer Aussage theologischen Streit ins Wohnzimmer hole – nicht mehr als eine Tierart unter vielen. Gleichwohl ist es wohl die einzige, von der wir wissen, dass sie diese Zivilisationsstufe erreicht hat, auf der wir jetzt stehen.
Das System „Homo Deus“, um einen Begriff meines Landsmannes Yuval Noah Harari zu verwenden, kommt allerdings genauso eindeutig nicht ohne Kunst und Kultur aus. Sobald Soziologen, Archäologen, Historiker der Antike, der Moderne oder der Zukunft sich mit der Menschheit an sich befassen, so verweisen sie auf kulturelle Ähnlichkeiten oder Unterschiede. So ist z. B. die Mythologie der griechischen und der römischen Antike sehr ähnlich, weist aber dennoch genügend Merkmale auf, durch die wir sie unterscheiden können. Ähnlich wird der Barock von der Gotik getrennt, die aztekische Kultur von der Post-Kolonisation, die italienische von der niederländischen Renaissance, das Maurerische vom Profanen etc.
Kunst und Kultur bilden das System
Jegliche Definition von Zivilisation reduziert sich also de facto ausschließlich auf deren Kultur, sei sie mythologischer, architektonischer, musikalischer, kulinarischer, technischer oder welcher Art auch immer.
So komme ich zur für mich einzig logischen Schlussfolgerung, dass Kunst und vor allem Kultur eindeutig nicht als systemrelevant gewertet werden können. Sie sind nämlich viel mehr als das, sie sind systeminhärent, sie sind das System selbst.
Ohne Kunst und Kultur – sowie die Menschen, die in diesen Branchen in all ihrer Vielfalt tätig sind – gäbe es kein System, für das man eine Relevanz definieren könnte. Gerade in Deutschland war vor den Zeiten von Corona oft zu hören, es handele sich um eine Kulturnation, die verschiedenen Bundesländer seien Kulturstaaten.
Wir bezeichnen die Freimaurerei gerne als die „Königliche Kunst“. Dieser Begriff lässt sich natürlich auf die sieben freien Künste der Antike zurückverfolgen, insbesondere auf Plato, der die Philosophie als die Königliche Kunst benannte.
James Anderson bezeichnete 1723 in seinen „Constitutions of the Free Masons“ die Freimaurerei zum ersten Mal als „Königliche Kunst“, in Anlehnung an die „Praktische Alchemie“.
Ob nun die Freimaurerei eine tatsächliche Kunst im Sinne von „Fertigkeit, zu können“ ist oder nicht, will ich gar nicht beantworten. Jeder mag darüber selbst sinnieren. Es ist aber nicht abzustreiten, dass die Freimaurerei unsere Kultur prägt – sowohl bei jedem einzelnen von uns persönlich als auch (nicht nur historisch gesehen) kollektiv und gesellschaftlich. Gerade in Europa (in Deutschland insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg) sind die Ideale der Aufklärung, der Französischen Revolution – Egalité, Liberté, Fraternité – die Grundsteine des kulturellen und politischen Systems. Dieselben Grundsteine und Ideale, die auch uns als Freimaurer bewegen und bewegen sollten – und mit denen wir uns auf Geheiß des Meisters auch bewähren sollen.
Mir persönlich erscheint es jetzt dringender als je zuvor, dass wir diese Ideale bewahren und beschützen. Wir müssen dafür sorgen, dass die neue Normalität besser wird als die alte. Wir müssen nicht nur in uns schauen, wir müssen auch um uns und über uns schauen und damit „aufmerksam auf uns selbst“ sein – mehr noch im gesellschaftlichen Sinne als im Persönlichen. Die Ideale der Brüderlichkeit, der Toleranz und der Menschenliebe müssen gerade jetzt von uns vehement verteidigt werden, ich würde diesen Idealen auch die der Empathie und der Solidarität hinzufügen wollen. Die Ideale der Königlichen Kunst müssen systeminhärent bleiben, um der von Albert Schweitzer so schön definierten „ethischen Entwicklung der Menschen und der Menschheit“ einen Rückschlag zu ersparen.
Ich rufe Euch hiermit auf, meine Brüder: Seid wachsam auf Euch selbst und bewährt Euch als Freimaurer, damit wir in Zukunft wieder in eine bessere Welt hinausgehen können

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 4-2020 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.