Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (AFuAMvD)

Die zweite Freimaurerei

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Die zweite Freimaurerei

Von Hans-Hermann Höhmann

Die Pflichtbaustellen von Brüdern, Logen und Großlogen

Kein Bruder Freimaurer zweifelt daran, dass sich die Freimaurerei durch die Geschichte hindurch als Gemeinschaft von Wert und Bedeutung bewährt hat und dass sie für viele Menschen soziale Heimat und Vermittlerin von Lebenssinn und moralischer Orientierung war und ist.

Wir alle schätzen diese „Erste Freimaurerei“, diese Freimaurerei, von der wir hoffen, dass sie als eine wahrhaft „Königliche Kunst“ lebt und wirkt. Und sicherlich gibt es auch viele Elemente dieser „Ersten Freimaurerei“, die uns Freude machen und die keinen Gedanken daran aufkommen lassen, uns vom Freimaurerbund zu trennen.

Aber wenn wir offen sind für das Erfassen der Wirklichkeit, so wie sie ist, so erkennen wir doch auch Tendenzen zu Formen der freimaurerischen Praxis, die uns verstimmen und skeptisch stimmen und die man die „Zweite Freimaurerei“ nennen möchte. Darunter ist eine Freimaurerei zu verstehen, die im Widerspruch zu den ideellen Grundlagen des Bundes zum Selbstzweck geworden ist, die sich auf sich selbst konzentriert, und zwar nicht im Sinne einer moralisch erzieherischen Arbeit am eigenen Ich und eines Bemühens um bessere Verhältnisse im Umfeld des Freimaurers, sondern als freimaurerische Fehlhaltung, als Ausleben nicht kritisch hinterfragter Aktionsbedürfnisse, als Ausweiten persönliche Macht- und Einflussbereiche sowie als selbstgefällig-narzisstisches Streben nach persönlichem „symbolischem Kapital“ (Orden, Anreden, höhere Grade etc.). Diese „Zweite Freimaurerei“ führt zu administrativem Leerlauf, ist mit Konflikten verbunden, die u.a. auch zu Logenspaltungen führen können, enttäuscht immer wieder wirklich engagierte Brüder, führt zu Austritten und „innerer“ Deckung und trägt zu manchen hartnäckigen Stagnationserscheinungen bei, sowohl auf nationaler als auch auf übernationaler Ebene.

Wenn wir gegen die genannten Schwachstellen, die vorgestellten Erscheinungsformen der „Zweiten Freimaurerei“ vorgehen wollen, so sehe ich sieben Baustellen, auf denen wir tätig werden müssen. Dabei bezieht sich meine Einschätzung primär auf die humanitäre Freimaurerei, insbesondere, was die Arbeit an der freimaurerischen Konzeption betrifft, doch die meisten der Aufgabenfelder, die ich benenne, haben großlogenübergreifenden Charakter, und wir können uns in der Aussprache über das austauschen, was allgemeinen Charakter hat.

Die sieben Baustellen – oder dringlichkeitshalber Pflichtbaustellen – sind – ich benenne sie zunächst mit Stichworten, um sie dann ausführlicher zu behandeln:

  1. Der Bruder (entsprechend die Schwester)
  2. Die Loge
  3. Die Konzeption der Freimaurerei
  4. Das Ritual
  5. Die Organisation
  6. Die Außendarstellung
  7. Das Wirken in der Gesellschaft.

Baustelle 1: Der Bruder

Natürlich beginnt alles mit der Arbeit am Menschen. Denn wenn der Meister danach fragt, welche Bausteine wir zum Tempelbau der Humanität benötigen, so erhält er im Ritual meiner Loge die Antwort: „Menschen, Menschen immer neue Menschen.“ Und das bedeutet nicht primär neue Mitglieder, sondern vor allem Brüder und Schwestern, die im Sinne einer moralisch orientierten Ausrichtung innerlich neu werden, die mit „Leidenschaft und Augenmaß“ (Max Weber) am Rauhen Stein der eigenen Person arbeiten und sich darum bemühen, einen freimaurerischen Habitus zu entwickeln.

Freimaurerischer Habitus meint ein Bündel menschlicher Eigenschaften, mit dem wir das assoziieren, was wir für die Freimaurerei wesentlich erachten, wie insbesondere

  • die Fähigkeit zu Selbsterkenntnis, Selbstkritik und Demut;
  • den Verzicht auf Selbstinszenierung und ungezügelten Narzissmus;
  • die Abkehr von Rassismus, Nationalismus und völkischem Denken;
  • das Streben nach Toleranz, Gelassenheit, Mitmenschlichkeit, Interesse füreinander, Offenheit und Gesprächsfähigkeit;
  • die dynamische Balance zwischen der Fähigkeit, Konflikte auszutragen und der Bereitschaft, sie durch Versöhnung zu überwinden;
  • das tätige Sich-Einsetzen für andere im Sinne von Hilfsbereitschaft und wirklich spürbarer Anteilnahme.

Ein so beschaffener freimaurerischer Habitus ist – wenn aus „Zweiter“ wieder „Erste“ Freimaurerei werden soll – unverzichtbar. Er ist – bei aller Gebrochenheit – auch eine alte freimaurerische Zielvorstellung. Der Gedanke, dass Freimaurerei vor allem Habitus Strukturierung bewirken soll, taucht schon früh in der Geschichte des Bundes auf und ist regelmäßiger Bestandteil von Texten und Ritualen.

Als frühes Beispiel möchte ich eine Rede des Londoner Freimaurers Martin Clare von 1735 zitieren. Clare war als Meister v. Stuhl der „Loge of Friendship“ sowie als Großaufseher und deputierter Großmeister der Londoner Großloge seinerzeit durchaus ein Maurer von Rang.

Die innerliche, geistige Höflichkeit drückt sich im allgemeinen im äußerlichen Benehmen aus … aber der wesentlichere Teil der Höflichkeit liegt tiefer als das Äußere und ist jenes allgemeine Wohlwollen, jene anständige Hochachtung und persönliche Wertschätzung für jedermann, die uns warnt, in unserem Benehmen anderen gegenüber Geringschätzung, Missachtung oder Nachlässigkeit zu zeigen ... Dieser Teil der Höflichkeit ist, mit einem Worte gesagt, eine geistige Gesinnung, die im Benehmen sichtbar wird.

Eine schöne Beschreibung von Freimaurerei, meine Brüder und Schwestern, der wir gern zustimmen und die wir habituell in uns fest machen sollten: Freimaurerei ist eine geistige Gesinnung, die im Benehmen sichtbar wird.

Ein Letztes noch zum Kontext Habitus. Habitus als Inbegriff von Wahrnehmen, Denken, Entscheiden und Handeln ist eine langfristig gewachsene Kategorie. Habitus ist nur schwer veränderbar. Für die Auswahl neuer Mitglieder ließe sich infolgedessen überspitzt formuliert empfehlen, nur den, der habituell bereits erkennbar Freimaurer ist, zum Bruder Freimaurer aufzunehmen! Auf alle Fälle gilt es, bei der Auswahl von Kandidaten die folgende Feststellung Pierre Bourdieus zu beherzigen: „Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person versperrt ist.“ Auf die Loge angewendet hieße dies: Um zu wissen, was die Loge von einem neuen Mitglied nicht erwarten kann, muss sie seinen Habitus kennen und bei ihrer Aufnahmeentscheidung beachten, sonst bleiben die Erwartungen auf beiden Seiten unerfüllt und Enttäuschung ist programmiert. Daraus folgt: Mitgliederauswahl ist notwendigerweise ein langer, qualitätsorientierter Prozess – und kein „Hoppla, jetzt erhöhen wir mal schnell unsere Mitgliederzahl“.

Baustelle 2: Die Loge

Die Loge ist das Zentrum der freimaurerischen Praxis. Eine in sozialer, ethisch-moralischer und ritueller Hinsicht harmonisch und kreativ wirkende Loge ist Grundvoraussetzung einer gelingenden Freimaurerei. Deshalb ist das Bemühen um eine wirksame „Logenbaukunst“ für die Loge eine conditio sine qua non. Für weitere Überlegungen dazu möchte ich fünf Formen der Logenpraxis unterscheiden, die vielfach sicherlich auch schon erfolgreich umgesetzt werden, die jedoch weiteres Nachdenken lohnen:

  • die soziale Praxis, die in der Pflege von Freundschaft und Geselligkeit besteht;
  • die kulturelle Praxis, die gleichsam als Beitrag zur Säule der Schönheit auf gemeinsames ästhetisches Erleben angelegt ist;
  • die diskursethische Praxis, die nach den Inhalten der Freimaurerei, nach Werten und Orientierungen des Freimaurers und nach den humanitären Herausforderungen der Gegenwart fragt;
  • die karikative Praxis, die darin besteht, finanziell zu helfen, vielleicht aber auch einmal gemeinsam etwas Praktisch-Konkretes in Angriff zu nehmen;
  • schließlich die rituelle Praxis, die darin besteht, das Ritual auf nachdrückliche Weise gemeinsam als spirituellen Erfahrungsraum zu erleben.

All diese Formen der Logenpraxis gehören zusammen, wenn das Logenleben interessant und attraktiv sein soll. Denn es gehört ja auch zur Realität der Loge, dass sie in Konkurrenz steht zu vielen anderen Formen der Unterhaltung. Vor allem aber muss die Loge eine Kultur des persönlichen Ausgleichs und der menschlichen Offenheit entwickeln. Die erforderliche Atmosphäre der Freundschaft kann leicht gestört werden, wenn Egoismus und Rechthaberei sich ausbreiten, und schnell erfolgt dann der Umschlag von „Erster“ in „Zweite“ Freimaurerei. Um diese zu verhindern, ist auch eine wirksame, auf Integration und Förderung von Freundschaft angelegte Kultur der Bürgschaftsübernahme erforderlich. Gerade bei der heutzutage dominierenden Rekrutierung neuer Mitglieder über das Internet, bedarf es verantwortungsbewusster Bürgen, die sich schon eine Zeitlang vor der Aufnahme um den Suchenden kümmern, damit die Bruderschaft der Loge – ich habe ja schon darauf hingewiesen, wie wichtig dies ist – den Habitus des Suchenden rechtzeitig gründlich kennenlernt.

Ein letzter Gesichtspunkt zur Baustelle Loge: Kommunikation zwischen Männer- und Frauenlogen. Meines Erachtens ist dafür prinzipiell ein guter Zustand erreicht: Wir erkennen uns freimaurerisch an, d.h., wir stehen als Freimaurer und Freimaurerinnen auf der gleichen initiatischen Grundlage und wir kooperieren auf vielfältige Weise miteinander. Aber es herrscht viel Ängstlichkeit im Hinblick auf die Frage, wie weit wir dabei gehen sollen. Meine Auffassung ist diese: Die Männerlogen und Frauenlogen in Deutschland wollen Männer- und Frauenlogen bleiben und keine gemischten Logen sein, und es gibt gute Gründe für diese Einstellung. Das heißt, dass die Inititiationsräume, die Aufnahmen, Beförderungen und Erhebungen, nach wie vor zu trennen sind. Tempelarbeiten sonstiger Art, Festarbeiten etwa, könnten in meiner Sicht dagegen durchaus gemeinsam durchgeführt werden, auch mit maurerischer Bekleidung. Ich weiß, dass ich mit dieser Auffassung einen Stein Wasser werfe und vielleicht ein Regencèpe benötige, um mich gegen die Spritzer der Verärgerung zu schützen, aber nur am Ufer stehen und träumen, wäre m. E. in dieser, wie in vielen anderen Fragen der deutschen Gegenwartsfreimaurerei keine adäquate Haltung.

Baustelle 3: Das Konzept

Was ist der Inhalt der Freimaurerei? Er ist nicht einheitlich für alle Großlogen und daher stets eine Herausforderung zur Toleranz. In der Geschichte des Bundes hat es, wie wir ja schon sahen, immer zahlreiche konkurrierende Inhalte gegeben, und die Einheit des Bundes, die daneben schon immer Ideal und Ziel des Strebens gewesen ist, bestand stets mehr in der Vorstellung als in der Realität. Dies gilt ja auch für die deutsche Freimaurerei der Gegenwart, in der humanitäre und christliche Formen neben einander stehen und sich zusätzlich die liberal-laizistische Freimaurerei des Grand Orient de France auszubreiten versucht, was unlängst zu einer m.E. übertriebenen und überflüssigen Aufgeregtheit in der deutschen Bruderschaft geführt hat.

Jede Form von Freimaurerei ist für die Entwicklung ihres Konzepts verantwortlich. Das Konzept der humanitären Freimaurerei, mit dem ich mich stets besonders beschäftigt habe, versteht sich in der Tradition des Humanismus und der Aufklärung. In ihm sind die Logen Wertegemeinschaften und weder Glaubensgemeinschaften noch esoterische Zirkel.

Was nun deutlich gemacht werden muss, und worüber weder innerhalb der humanitären Freimaurerei noch in der sie umgebenden Gesellschaft Zweifel bestehen sollten, sind die Prinzipien, die Humanismus und Aufklärung für die Gegenwart begründen. Mir scheinen dabei die folgenden, in sieben Thesen zusammengefassten Grundsätze für die Freimaurerei, von besonderer Bedeutung:

  • Leben, Wohlergehen, Freiheit und Glück jedes einzelnen Menschen sind Ziel und Maßstab des individuellen wie des gesellschaftlichen Handelns.
  • Anerkennung der Menschenwürde erfordert Toleranz, Demokratie und soziale Gerechtigkeit sowie den unbedingten Verzicht auf Rassismus und völkisches Denken;
  • Ausrichtung von Denken und Handeln am Maßstab der Redlichkeit, Vernunft und Wahrheitssuche ist Grundelement jeder menschlichen Orientierung.
  • Förderung der schöpferischen Kräfte des Menschen ist Grundlage dafür, dass die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit und an den vielfältigen Baustellen in der Gesellschaft vorangebracht werden kann.
  • Friede mit der Natur und nachhaltiger Umgang mit ihren Ressourcen sind Bedingungen menschlichen Daseins in industriegesellschaftlichen Verhältnissen.
  • Wertschätzung von Reichtum und Vielfalt der Kulturen der Welt und Orientierung an der alten freimaurerischen Hoffnung, „dass das menschliche Geschlecht eine Bruderkette werde“ sind Grundlagen einer stabilen internationalen Friedensordnung.
  • Und schließlich: Auch heute hat das Prinzip Aufklärung zu gelten, verbunden freilich mit der Einsicht, dass nur eine reflektierte Vernunft und eine selbst-kritische Aufklärung als tragfähige Grundlagen menschlicher Lebensführung und sozialer Gestaltungsprozesse tauglich sind. Wissen und Vernunft dürfen nicht rein instrumentell zum Wirken kommen, sie sind mit Verantwortung zu verbinden.

Diese sieben Orientierungen, die mehr pragmatischen als systematischen Charakter besitzen, die den Charakter von Themen tragen für eigene diskursive Variationen, bestimmen nun freilich nur den Rahmen für freimaurerisches Denken und Handeln. Diesen Rahmen gilt es im Diskurs der Brüder zu füllen, und auch hierzu mag das von Lessing empfohlene „Laut denken mit dem Freunde“ für den Maurer von heute eine vorzügliche Methode sein.

Was meine Begrifflichkeit der „Ersten“ und der „Zweiten“ Freimaurerei betrifft, so wäre es nun freilich abwegig, alle anderen Konzepte als das humanitäre als einer uneigentlichen, einer „Zweiten“ Freimaurerei zugehörig zu betrachten. Es ist aber erforderlich, das eigene Verständnis von Freimaurerei klar von anderen abzugrenzen und auf den hierzulande oft anzutreffenden „masonischen Mischmasch“ zu verzichten, der auf eine in Deutschland chronische, aber verfehlte Einheitssehnsucht zurückzuführen ist. Und es ist weiter erforderlich, damit aufzuhören, gegen die jeweils andere Form der Freimaurerei vorschnell mit dem Vorwurf der Irregularität vorzugehen. Freimaurerei lebt von der Freiheit der Gedanken. Sie braucht Spielräume für Weiterentwicklung. Gewiss benötigt Freimaurerei gleichzeitig feste Grundlagen, aber diese Grundlagen müssen von den Brüdern und Schwestern durch Diskurs und Konsens und nicht durch übergestülpte Regeln bestimmt werden. Formen der Denunziation wegen angeblicher Irregularität, auf die wir in der deutschen Gegenwartsfreimaurerei gelegentlich stoßen, auch in der Praxis der VGLvD, sind durch und durch unerfreulich und spielen sicher hinüber in bedenkliche Formen einer „Zweiten Freimaurerei“.

Baustelle 4: Das Ritual

Die Logen der Freimaurer bieten einen auf Symbole und Rituale gegründeten spirituellen Wahrnehmungs-, Handlungs- und Erfahrungsraum, in dem die Ziele und Ideen des Freimaurerbundes im Bewusstsein und im Habitus der Brüder verankert werden. Das Ritual ist keineswegs die ganze Freimaurerei, doch es ist das, was Freimaurerei von anderen Bünden mit humanitärer Einstellung unterscheidbar macht. Auf der Grundlage der jeweiligen Form von Freimaurerei und daher durchaus auf verschiedene Weise lehrt das Ritual durch Symbole, Metaphern und rituelle Handlungen und rundet so die soziale und diskurs-ethische Praxis der Loge durch eine die Gesamtperson des Bruders erfassende und verändernde spirituelle Dimension ab. Initiationen, performatives Sprechen und Handeln sowie mimetisches Lernen sind hierbei die wesentlichen Elemente.

Das Ritual lässt die Werte des Bundes, die wechselseitigen Beziehungen der Brüder sowie die Chancen für die eigene innere Entwicklung sinnlich und emotional erfahren.

Das Ritual öffnet das Bewusstsein des Maurers für ein Wahrnehmen bisher verborgen gebliebener Schichten der Persönlichkeit. Dadurch vermittelt es nicht nur Denkanstöße, sondern es wird auch zum Medium der Selbsterfahrung und der Selbstentwicklung.

Allerdings: Das Ritual besitzt keinen Offenbarungscharakter, es vermittelt keine Heilslehren, und es hat keine magische Qualität. Zuletzt und ganz deutlich: Das Ritual begründet keine Religion, und es sollte auch keine ersatzreligiösen Funktionen übernehmen. Ihr betont säkularer Charakter bedeutet vielmehr, dass sich eine humanistisch orientierte Freimaurerei sowohl gegenüber der christlich-gnostischen Tradition des Bundes als auch gegenüber hermetisch-esoterischen Mythen skeptisch verhält. Einer christlichen Freimaurerei ist die in meiner Sicht unverzichtbare Eigenschaft verloren gegangen, Brücken zwischen den Menschen unterschiedlicher Religion und Weltanschauung zu bauen, und was die Esoterik betrifft, so können freimaurerische Rituale zwar auch in der Humanistischen Freimaurerei esoterisch verstanden werden, und die Freimaurerei kann Ort esoterischer Diskurse sein. Die Beschäftigung mit Esoterik als einer Denktradition und überlieferten religiösen Sichtweise bedeutet aber nicht, dass die Verheißung einer Entschlüsselung geheimer Codes und „verlorener Symbole“ im Mittelpunkt der Freimaurerei und ihrer Rituale stehen dürfte. Mit einer Freimaurerei à la Dan Brown und den damit verbundenen obskuren Bilderwelten ginge jeder Anspruch auf Ernsthaftigkeit verloren.

Wie die freimaurerische Konzeption hat auch das Ritual feste Grundlagen, die mit der Tradition der jeweiligen Großloge verbunden sind. Doch sollte auch das Ritual offen für Weiterentwicklungen sein. Dabei hätten – meiner Auffassung nach – den Logen mehr Gestaltungsspielräume zu zukommen. Die Großloge sollte endlich einen umfassenden Ritualdiskurs initiieren und sich mit Ritualkontrollen zurückhalten.

Wenn wir von „Zweiter Freimaurerei“ im Hinblick auf das Ritual sprechen wollen, so müssen wir vor allem an die Ritualpraxis denken. Denn diese entspricht nicht immer den Anforderungen der Wirksamkeit des Rituals. Das Ritual ist spiritueller Erfahrungsraum, das Ritual trennt uns von der profanen Umwelt, das Ritual ist aber auch ein Fließen, das uns trägt, und das gestört wird, wenn seine Elemente – wie Sprechen, Schweigen, Sich-Bewegen und Musik – nicht sorgfältig aufeinander abgestimmt werden.

Deshalb gilt es, das Ritual einerseits leicht zu nehmen, damit es schweben kann, es andererseits aber auch ernst zu nehmen und immer wieder einzuüben, damit die rituelle Atmosphäre mit ihrer ganzen Nachdrücklichkeit ungestört erhalten bleibt.

Baustelle 5: Die Organisation

Die Organisation der Loge ist wichtig und steht zurecht ja auch im Zentrum vieler logenübergreifender Seminare. Deshalb bedarf es an dieser Stelle nicht vieler weiterer Worte. Wichtig ist nur, immer wieder einzusehen, dass Organisation nicht zum Selbstzweck werden darf. Bei der historischen Hinführung zur „Zweiten Freimaurerei“ im ersten Teil meines Beitrags konnte ja gezeigt werden, wie leicht sich das persönliche Interesse vor die freimaurerischen Inhalte schiebt. Persönliche Spannungen und Zerwürfnisse in der Loge werden oft ja nicht durch Lösung der Konflikte und Versöhnung beendet, sondern durch die Spaltung der Loge und die Gründung neuer Bauhütten. Ganz wesentlich ist deshalb, dass der Freimaurer lernt, dass es Wichtigeres gibt in der Loge als die Rolle, die er selbst darin spielt, und dass er seinen Mitbrüdern schon zugestehen muss, dass diese auch einmal einen anderen Bruder als Meister vom Stuhl für geeigneter halten als ihn selbst.

Problematisch zum Stichwort Baustelle Organisation ist nicht zuletzt die Struktur der VGLvD. Was 1958 zu ihrer Gründung geführt hat, ist immer noch ungeklärt. Vermutlich war es ein starker internationaler Druck, mehr von schwedischer als von englischer Seite, und der Ehrgeiz einiger AFuAM-Brüder, Spitzenpositionen in der neuen Ordnung einzunehmen. Jedenfalls entspricht die Struktur der VGLvD nicht den Anforderungen, die „eigentlich“ an eine Großloge zu stellen sind: Sie hat kaum Brüder als unmittelbare Mitglieder, sie verfügt über kein Ritual im eigentlichen Sinn und sie hat mit dem Konvent eine Vertretung der Bruderschaft, die über keinerlei nennenswerte Vollmachten verfügt und einen rein akklamatorischen Charakter besitzt. Die Stimmverteilung im Senat entspricht nicht den Mitgliederstärken der Großlogen und die Senatsmitglieder können sich gegenseitig blockieren. Bruder Jens Oberheide hat die VGLvD einmal als Vernunftehe gekennzeichnet. Ich würde eher von einer „Unvernunftehe“ sprechen, die nicht erforderlich ist, um das zu erreichen, was gewiss wünschenswert ist: das Zusammenwirken der deutschen Freimaurer an der Logenbasis der Freimaurerei, denn das können die Logen ganz gut selbst. Da die VGLvD aber kaum aufzulösen ist, muss alles getan werden, um ihr Wirken so bescheiden und vernünftig wie möglich zu gestalten. Und hierzu brauchten wir wirklich einmal einen klärenden, bruderschaftsweiten Diskurs. Bei diesem Diskurs sollte auch erörtert werden, warum die Zusammenarbeit der Großlogen stets vorwiegend repräsentativ und oft feierlich hohl ist, und in keiner Weise konzeptionell weiterhilft. Ich habe es beispielsweise als recht peinlich empfunden, dass die weitaus beste Ansprache beim Jubiläumstreffen der deutschen Freimaurer 2017 im Sprengelmuseum in Hannover von einem profanen Politiker, Prof. Rolf Wernstedt, ehemaliger niedersächsischer Kultusminister und Präsident des Niedersächsischen Landtages gehalten wurde, während die Beiträge der freimaurerischen Würdenträger mehr oder weniger enttäuschten.

Baustelle 6: Die Außendarstellung

Die Darstellung der Freimaurerei in der Öffentlichkeit ist gerade in und nach der Corona-Krise von großer Bedeutung für unseren Bund. Die Probleme der Zeit erfordern eine „neue Ernsthaftigkeit“, die wir im Inneren entwickeln und in der Gesellschaft verdeutlichen müssen. Dabei haben wir von den Freimaurer-Images oder Außenbewertungen der Freimaurerei auszugehen, mit denen wir es heutzutage zu tun haben, um uns dann zu fragen, auf welche Weise die Freimaurer darauf reagieren sollten.

Vielleicht lassen sich für diese Images acht wichtige Vertreter-Gruppen unterscheiden:

  • Da sind erstens die Anhänger alter und neuer Verschwörungsmythen, die das „Objekt ihrer Begierde“ – die bösen Freimaurer und ihre Bundesgenossen – keinesfalls verlieren wollen, mit denen man kaum diskutieren kann, um die herum jedoch Aufklärung seitens der Freimaurerei erforderlich ist.
  • Da sind zweitens die nicht wenigen Menschen, die auf irgendeine Weise immer noch Denkvorstellungen und Befürchtungen des Volksaberglaubens anhängen, woraus dann eine diffuse Abwehrhaltung und Berührungsangst gegenüber der Freimaurerei resultiert. Ich erzähle dazu gern eine selbst erfundene Anekdote: Ein Wohltätigkeitsbuffet des Rotary-Clubs? „Prächtig, da gehen wir hin.“ Eine ebenso wohltätige Reibekuchenbude der Freimaurer? „Nein danke, lieber nicht, man kann schließlich nicht wissen, was die da alles hineinbacken.“ Da gilt es für die Freimaurer nur, mit schlichter, bürgerlicher Normalität zu überzeugen.
  • Da sind drittens die Kirchen, die – wie die katholische – entweder wissen, aber nicht mögen, wie die Freimaurerei es mit der Religion hält, oder die es – wie die evangelische – bei allem Wohlwollen doch noch etwas genauer wissen will: Hier sollte die Freimaurerei auf redlich-seriöse Weise gesprächsbereit sein, zuvor allerdings das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Religion in ihren eigenen Kolonnen sorgfältig klären.
  • Da ist viertens die Wissenschaft, die sich mehr und mehr mit der Freimaurerei beschäftigt, und die Unterstützung verdient, wie und wo immer Freimaurer dazu in der Lage sind. Die externe Freimaurerforschung ist das Gewissen der Freimaurerei, weil sie hilft, Eigenverdunkelungen zu überwinden und sich selbst besser zu erkennen.
  • Da sind fünftens die Vertreter der Politik, des Staates und der Kommunen, die der Freimaurerei meist wohl gesonnen sind und deren redliche und offene Gesprächspartner Großlogen und Logen zu sein haben.
  • Da sind sechstens die Medien, in denen angemessen vertreten zu sein, Freimaurer sich auf seriöse Weise bemühen sollten, wobei im Hinblick auf die Welt der bunten und bewegten Bilder Zurückhaltung am Platze ist. Arkandisziplin heute sollte nicht zuletzt bedeuten, sich in der Öffentlichkeit nicht lächerlich zu machen.
  • Da ist siebtens die intellektuelle, die kulturelle Öffentlichkeit, die Öffentlichkeit gesellschaftlich relevanter Diskurse. Hier sollten sich die Freimaurer um gehaltvolle Präsens bemühen. Wenn sie etwas zu sagen haben, dann sollten sie es auch sagen, denn besser, als die Stimmen anderer zu prämieren, wäre es, mit eigener Stimme im gesellschaftlichen Diskurs vernehmbar zu sein.
  • Schließlich und achtens ist da so etwas wie die Gesellschaft im Allgemeinen, die u.a. aus den Menschen zusammengesetzt ist, die in die Logen kommen und fragen, wer die Freimaurer sind und was sie zu sagen haben, und die vielleicht in den Logen als zukünftige Brüder mittun wollen.

Nicht zuletzt in der Kommunikation mit diesen Menschen käme es darauf an, sich der eigenen maurerischen Identitäten klarer bewusst zu werden und ein deutliches Bild davon zu vermitteln, was Freimaurerei ist und was sie nicht ist. Gerade die „Suchenden“ müssen rechtzeitig erkennen können, dass es unterschiedliche Formen und Verständnisse von Freimaurerei gibt, die der Redlichkeit halber nicht verwischt werden und erst nach der Aufnahme sichtbar werden dürfen.

Letztlich noch etwas, was für mich von besonderer Wichtigkeit ist: Jede Definition und jede öffentliche Darstellung der Freimaurerei, die vom Ritual ausgeht, muss in die Irre führen. Ritualpräsentationen in der Öffentlichkeit, die freimaurerische Bilderwelten zur Schau stellen ohne den Kontext von Freundschaft und Geselligkeit, von Ethik und Moral in den Vordergrund zu stellen, verfälschen den Charakter des Freimaurerbundes – jedenfalls aus der Sicht eines Freimaurers, der sich in der Tradition von Humanismus und Aufklärung versteht. Das freimaurerische Ritual ist Bestandteil eines Gesamtsystems, das es in sich aufgenommen hat, um Freundschaft und Moral im Menschen habituell zu verankern. Es ist Menschenwerk, es ist nicht mit göttlicher Offenbarungskraft ausgestattet, es ist nicht Element einer Ersatzreligion, trage sie christlichen, trage sie esoterischen Charakter. Aus einem solchen Verständnis ergibt sich: Erst eine klare und vernünftige Gesamtdarstellung der Freimaurerei erlaubt es, sinnvoll über das Ritual in der Öffentlichkeit zu sprechen, wobei auf die Präsentation missverständlicher Bilderwelten und – was die Brüder Freimaurer betrifft – auf schurzbekleidete Auftritte in der Öffentlichkeit soweit es immer geht verzichtet werden sollte. Der Freimaurer muss einsehen, dass zwischen öffentlicher Präsens und Enthüllungssucht ebenso Grenzen vorhanden sind wie zwischen Selbstrespekt und Narzissmus. Diese Grenzen dürfen im Interesse einer gedeihlichen Entwicklung unseres Bundes nicht überschritten werden.

Baustelle 7: Das Wirken in der Gesellschaft

Beim Wirken in der Gesellschaft, das in und nach der Corona-Krise an Bedeutung gewonnen hat, gibt es eine doppelte Verantwortung: die des einzelnen Freimaurers und die der Freimaurerei als Gruppe.

Einfach im Prinzip, wenn auch mühsam in der Durchführung, ist die Sache für die einzelnen Mitglieder des Bundes. Der einzelne Freimaurer kann und soll sich engagieren, wo und wie es seiner an freimaurerischen Wertvorstellungen orientierten konkreten sozialen und politischen Philosophie entspricht. Denn wie immer wir uns dem Sittengesetz, dem Leben, dem Frieden, der Gerechtigkeit und der Toleranz verpflichtet fühlen, wir unterscheiden uns in der konkreten Festlegung. Sich festlegen, parteiisch sein, kann folglich in vielen politischen Bereichen immer nur der einzelne Freimaurer. Das Freimaurerische dabei ist dann das Ethos, das er mitbringt, die Fähigkeit zum Dialog, das Wissen um die Perspektivität der individuellen Überzeugung, die Pflicht zu wohl gemessenem, proportioniertem Denken und Handeln, die Bereitschaft, sich immer wieder aus eigenen Vorurteilen herauszudenken.

Was bleibt der Freimaurerei als Gruppe, was bleibt etwa einer Loge oder der Großloge?

Es bleibt zunächst die gemeinsame Aktion da, wo alle Brüder übereinstimmen, weil die Werte unseres Bundes so gründlich in Frage gestellt werden, dass es keinen „Bund der Ungleichgesinnten“ mehr geben darf, was vor allem für den Einsatz für Demokratie, „Offene Gesellschaft“ und umfassende Toleranz gilt. Es bleibt ist das Forum der Loge für das Gespräch der Brüder über Probleme der Gesellschaft, über ethische und soziale Fragen. Es bleibt ist das Gespräch mit der Öffentlichkeit. Insbesondere kann und soll sich die lebendige Loge einbringen in das Leben ihrer Stadt. Sie kann zum Forum toleranter Auseinandersetzung um die Lösung örtlicher Probleme werden. Sie kann Plattform sein für das Benennen menschlicher Missstände und für die Suche nach konstruktiven Ansätzen, diese Missstände zu überwinden.

Logen können sich als Gruppen engagierter Bürger aber auch selbst manch brennender sozialer Probleme annehmen. Die Zahl der Aufgaben ist Legion. Eine neue und akute ist die Eingliederung der zu uns kommenden und bei uns bleibenden Migranten aus anderen Ländern. Hier zu helfen, hier Toleranz einzufordern wäre eine Aufgabe, die den Brüdern das Gefühl gemeinsamer Verantwortung vermittelt und zudem der Öffentlichkeit zeigt, dass Freimaurer nicht nur schöne Lieder und Reden, nicht nur gehaltvolle Diskurse sondern auch praktische Hilfe anzubieten haben, praktische Hilfe auch für die durch Winter und Corona äußerst bedrohten Obdachlosen. Ehrenamtliches Engagement in der Gesellschaft ist nicht nur vonnöten, sondern auch möglich.

Zum Schluss: Freimaurerei kann Vieles sein und ist auch in der Geschichte des Bundes Vieles gewesen. Freimaurer können sich allein für Geselligkeit und Brauchtumspflege, für Königliche Kunst als Spiel entscheiden – dann allerdings dürfen sie nicht gleichzeitig mit klingendem Spiel unter den Bannern von Toleranz, Humanität und Brüderlichkeit paradieren.

Freimaurer können den Sinn ihres Bundes vorrangig in der Welt des Rituellen suchen und durch die Hierarchie der Grade klettern – dann allerdings hätten sie sich davor zu hüten, dem Typus der esoterischen Sekte allzu nahe zu kommen.

Es steht den Freimaurern auch offen, den oft zu weiten Mantel ihrer ethischen Ansprüche zu verkleinern – dann freilich droht biedermännische Bedeutungslosigkeit.

Freimaurer können sich aber auch darum bemühen, durch mehr konzeptionelles Profil und eine überzeugende Praxis in diesen weiten Mantel selbstgesetzter Ansprüche hineinzuwachsen.

Auf alle Fälle müssen Freimaurer redlich sein und sagen, was sie sind und was sie wollen. Und sie müssen ihre Baustellen erkennen und an die Arbeit gehen. Dabei gilt es auch, Impulse und Kritik von außen aufzunehmen, und für eine dynamische Weiterentwicklung des Freimaurerbundes zu nutzen. Die Freimaurerei braucht intellektuelle Auseinandersetzung wie die Luft zum Atmen.

Gern wird in den Logen gesagt, Tradition hieße nicht Asche zu bewahren, sondern Feuer weiterzugeben. Feuer aber entsteht durch Reibung, und Reibung entsteht an den Schnittstellen, wo die inneren Entwicklungen der Freimaurerei auf die Herausforderungen durch die Gesellschaft stoßen.

 

Eine umfangreichere Fassung dieses Beitrags erscheint im nächsten „Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung“

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