Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (AFuAMvD)

Donald und Greta

Empfehlen

Illustrationen: Feodora / stock.adobe.com

Donald und Greta

Von Ulrich Cichy

Als Zeitgenosse fällt es einem schwer, die Dynamik der gesellschaftlichen Veränderungen zu erkennen. Nur: Wer sich nicht mit den Veränderungen befasst, hat irgendwann neue Umstände, die ihn dann vielleicht überraschen. Das gilt insbesondere für die Freimaurerei, die in Traditionen verhaftet und mit dem starken Blick nach innen nicht immer den aktiven Anschluss an die gesellschaftlichen Veränderungen sucht. Dabei bilden sich gerade jetzt zwei zu beachtende gesellschaftliche Strömungen heraus, die hier nach „Donald“ und „Greta“ benannt und (grob) skizziert werden sollen. Und: Welche Schlüsse resultieren hieraus für die Freimaurerei?

I.

Donald deshalb, weil der Vorname Trumps dafür steht, dass viele niedrig qualifizierte Opfer des Strukturwandels und der Globalisierung mit seit langem stagnierenden Einkommen in den USA zweimal einen Milliardär zum Präsidenten wählten bzw. wählen wollten, ein Leitbild des rechten Populismus. Und sie stellten mit ihm viele Regeln des demokratischen Rechtsstaats infrage. Das Anwachsen des rechten Populismus in vielen Industrieländern insgesamt ist nicht zufällig, sondern unterliegt der gleichen Entwicklungsdynamik einer sozioökonomischen und politischen Neuordnung der Gesellschaften. Aber abweichend von den tatsächlichen Entwicklungen denken wir zu oft noch in den Bildern z.B. der heranwachsenden Bundesrepublik, in der die Mittelklasse (rd. 25 Prozent der Bevölkerung) von ihrer ideellen Bedeutung her allumfassend war. Gerade für die Arbeiter (rd. 50 Prozent der Bevölkerung) war es ein Ziel, in die Mittelschicht aufzusteigen — entsprechend dem Motto „Aufstieg durch Bildung“.

In der „nivellierten Mittelschichtsgesellschaft“ (Andreas Reckwitz) war man eifrig und strebsam, gleichförmig, eher dem materiellen Fortschritt als romantischen Gefühlen zugewandt: Arbeits- und Familienethos, Reihenhausidylle, Fleiß, Verlässlichkeit und Pflichtorientierung, um im Gleichschritt mit den Nachbarn wirtschaftlich voranzukommen. Man ordnete sich in die Gesamtheit der Gleichen ein und hatte die gleiche Konsumorientierung. Man lebte in den klassischen Rollenbildern von Mann und Frau, im Vorbehalt gegenüber anderen Identitäten. Ein kulturelles Umfeld mit einer gewissen Berechenbarkeit der Lebensumstände im privaten Wohlstand.

Aber es gibt heute den „Paternostereffekt“ (Andreas Reckwitz): Die stagnierende alte Mittelklasse und insbesondere die weniger gesicherten Bevölkerungskreise sind davon bedroht, kulturell und ökonomisch z.B. wegen der Globalisierung und der Digitalisierung den Anschluss zu verlieren und nach unten zu fallen.

Eine besondere Problematik entsteht für die Menschen der Unterschicht (im „Maschinenraum unserer Gesellschaft“, Thomas Schmid), denen sich vermehrt Arbeitsplätze und Aufstiegschancen verschließen. Sie sind insbesondere wegen des Wegfalls klassischer Industriearbeitsplätze zunehmend auf Leistungen des Sozialsystems angewiesen. Es zeigt sich der Übergang zu einer Serviceklasse, in der die Menschen zu geringen Löhnen und in unsicheren Dienstleistungsarbeitsverhältnissen die Grundlage für den Wohlstand der anderen schaffen.

Die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg (auch wegen der möglichen Überlastung der Sozial- und Steuersysteme) verunsichert diese alten Schichten — sie empfinden sich als die Modernisierungsverlierer. Eine hohe Sensibilität hinsichtlich der Zuwanderung und des gesellschaftlichen Perspektivwechsels zu mehr Vielfalt kommen verunsichernd hinzu. Deshalb öffnet man sich den Niedergangsprognosen der neuen Rechten bis hin zu den verschwörungsmythischen Fraktionen im Querdenkertum oder rassistischen und antisemitischen Legenden. Wissenschaftlich evidente Aussagen werden ohne Kenntnis in Frage gestellt, diesen oft fragwürdige Fake News entgegengesetzt. Es kommt zu markanten Grenzüberschreitungen im demokratischen Diskurs bis hin zum Begriff der Lügenpresse.

II.

Und es gibt das Phänomen Greta Thunberg. Eine Heranwachsende mit einer eng fokussierten Persönlichkeitsstruktur, die mit moralischem Impetus vor dem Untergang der Welt warnt. Die den Menschen bewusst ein schlechtes Gewissen machen möchte. Das an die Politik gerichtete „Wie könnt ihr es wagen?“ und der Vorwurf des Nichtstuns finden breite mediale Resonanz. Eine romantische Figur im Sinne einer Johanna des Umweltschutzes. Sie entstammt und repräsentiert in besonderer Weise das Milieu einer kulturell-globalen neuen Mittelklasse, einer kritischen Bildungselite.
Die neue Mittelklasse kennzeichnet eine spezifische Symbiose: Man sucht Selbstverwirklichung in einem genussorientierten Leben, aber auch wettbewerbs- und karriereorientiert sein Fortkommen. Man möchte eine freie, individuelle Lebensgestaltung, die wenig mit der gleichförmigen Konsumorientierung der alten Mittelklasse zu tun hat, zeigt aber auch eine hohe Empathie z.B. für Fragen des Umweltschutzes und des Klimawandels. Dieses „sowohl als auch“ (Andreas Reckwitz) der Lebensführung gesteht man auch anderen Menschen zu: Gender- und Diversitätsorientierung, Offenheit für Zuwanderung und Kulturpluralismus.

Man fordert umfassende politische Teilhabemöglichkeiten und grenzt sich dabei oft hart von den Andersdenkenden ab. Die Abgrenzung erfolgt z.B. dann, wenn eine nicht als korrekt empfundene Begrifflichkeit u.a. im Gender- oder Diversitätsjargon verwendet wird. Zumeist verbunden mit der Haltung einer moralischen Überlegenheit gegenüber den anderen Bereichen der Gesellschaft, die z.B. in Umwelt- und Klimafragen nicht die Herausforderungen der Zeit erkennen würden.

Das Überlegenheitsgefühl steigert sich im Einzelfall zu einer Cancel Culture, wenn über das tatsächliche oder angebliche Fehlverhalten einzelner Menschen nur noch moralisch und ausgrenzend, nicht im Sinne einer rechtsstaatlichen Fairness geurteilt wird.

Die alte Mittelklasse mag zwar in Teilen noch vermögender sein, die neue hat aber ein höheres kulturelles Kapital und dominiert deshalb die Medien, die Kultur und mittlerweile in weiten Bereichen die Politik. Die Neuen setzten die Themen und die Regeln für den öffentlichen Diskurs. Ein Beispiel ist die Durchsetzung der Gendernorm, obwohl laut einer Alensbach-Umfrage der 71 Prozent der Bevölkerung die Normierung der Sprache als übertrieben ansehen. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass nur noch 45 Prozent der Bevölkerung denken, dass man seine Meinung frei äußern könne. Mediale Bedeutung: Keine Lügenpresse, aber eine faktische Bevormundung der Medienkonsument*innen?

III.

Soweit die grobe und zwangsläufig unvollständige, zugespitzte Skizze. Aber was leitet sich aus ihr ab? Da ist die Donald-Perspektive: In ihr zeigt sich die abschätzige Beurteilung des politischen Diskurses in der pluralistischen Gesellschaft, der Widerstand gegen die Medien, die „etablierten“ Parteien und die die Politik dominierende kritische Bildungselite. Zu der Elitefeindlichkeit kommt eine grundsätzliche Infragestellung wissenschaftlicher Analysen. Weltanschauung und Fake News schlagen die Fakten. Aus dieser Wissensanmaßung resultiert ein moralisches Überlegenheitsgefühl. Nur: Wer moralisch urteilt, stellt sich über die Fakten und hat immer Recht. Damit wird der demokratische Dialog auf Augenhöhe mit Andersdenkenden unmöglich.
Und die Greta-Perspektive? Eine selbsternannte Avantgarde der Gesellschaft, die sich auf der richtigen Seite und in der Fortschrittsrolle zur Verhinderung der drohenden Klimakatastrophe und den Ungerechtigkeiten dieser Welt sieht. Verbunden mit einer Abwertung überkommener gesellschaftlicher Strukturen, der Beurteilung der Interessen- und Meinungsvielfalt der offenen Gesellschaft als Bremse. Hinzu kommen die Setzung von Tabus und moralische Appelle an das Unterbewusste mit Begriffen wie „Flugscham“, die verbreitete Ablehnung einer Technologieoffenheit, weil heute schon alle technischen Problemlösungen vorhanden seien. Oft ebenfalls mit einem moralischen Überlegenheitsbewusstsein. Hier entsprechend dem „Lebensstil der Hochgebildeten“ (Marc Saxer). Wie verträgt sich das mit dem Diskurs einer offenen demokratischen Gesellschaft?

Wenn Populismus die Vereinfachung aus weltanschaulicher Perspektive ist, dann finden sich Tendenzen zu einem links-grünen Populismus, einem gewissen Pendant zum rechten Rand. Somit zwei Strömungen, die in der Wahrnehmung der folgende Satz von Steven Pinker eint: „Viele verhalten sich, als sei rationales Denken überholt — als gehe es in Diskussionen nur darum, den Gegner zu diskreditieren, statt gemeinsam auf vernünftigem Weg zu den am ehesten vertretbaren Urteilen zu gelangen.“

Es handelt sich hier auch nicht um Randphänomene. Wenn man sich die politischen Milieus in Deutschland (z.B. anhand der Sinus-Milieus) betrachtet, dann ist die Annahme berechtigt, dass jeweils mindestens ein Drittel der Bevölkerung eine Affinität zu einer der beiden Perspektiven hat.

IV.

Aus so mancher Diskussion in der Bruderschaft weiß ich, dass viele Brüder meiner Zuspitzung nicht zustimmen. Dies kann und darf ich nicht bewerten. Stattdessen möchte ich auffordern, meine Überlegungen ganz einfach mal im Raum stehen zu lassen und mit mir über die aus ihnen ableitbaren Konsequenzen nachzudenken.

Zunächst stellt sich die Frage, wie sich eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft entwickelt, wenn die einfachen Lösungen für die komplexe Probleme angepriesen und gesellschaftsfähig werden, wenn man aus einem moralischen Überlegenheitsbewusstsein heraus die Welt richtig gestalten will. Karl Raymund Popper identifizierte Weltanschauungen mit einem Wahrheitsanspruch als „Feinde der offenen Gesellschaft“. Für ihn war Demokratie Stückwerktechnologie im Ausgleich der Perspektiven und Interessen. Er setzte auf das gemeinsame Lernen und nicht auf die „Wissensanmaßung“ (Friedrich August von Hayek). Deshalb bedarf es der demokratischen Auseinandersetzung und des Respekts vor den Perspektiven der Andersdenkenden. Selbst wenn die anderen nicht verstehen wollen, dass entweder eine „Überfremdung“ oder der „Klimakollaps“ drohen.

Für die Freimaurerei scheint sich das offene gesellschaftliche Umfeld einzuengen. Wie will eine der Humanität verpflichtete Gemeinschaft einen Dialog mit Menschen in der Donald-Perspektive führen, die die Gleichwertigkeit von Menschen bestreiten? Die Ablehnung des demokratischen Diskurses und von Minderheiten, anderen Lebensformen bis hin zu Verschwörungsmythen bieten nur schwerlich Ansatzpunkte für einen Diskurs aus der Perspektive der Freimaurerei.

Die Greta-Perspektive der jugendlich frischen und positiven Veränderung wie z.B. bei Fridays for Future dürfte dagegen vielen Brüdern aus der Seele sprechen. Bei Fragen der Menschen- und Minderheitenrechte sowie des Umweltschutzes ist ebenfalls keine grundsätzliche Fremdheit zu erwarten. Aber wie verträgt sich der oftmalige Absolutheitsanspruch der kritischen Bildungselite mit dem offenen freimaurerisch-humanitären Denken?

Die neue Mittelklasse könnte die Freimaurerei als Relikt der bürgerlichen Vergangenheit ansehen, das wegen hergebrachter Riten und Symbole nicht mehr Teil einer neuen Gesellschaft sein wird. Wie John Dickie in seinem Buch „Die Freimaurer“ schreibt, lebt unsere Gesellschaft in einer wesentlich durch die Freimaurer „männlich geprägten Welt der Mittelschicht“ — aber dies ist die alte Mittelschicht. Die Nichteinbindung von Frauen und die Diskretion gegenüber Außenstehenden seitens der Freimaurerei dürften hier besondere Reizthemen sein.

Wird Freimaurersein provinziell, weil sie traditionsgebunden ist und sich an den Werten der Aufklärung, damit am offenen Dialog in der Gesellschaft orientiert?

Damit sind wir beim Thema Mitgliedergewinnung. In der neuen Mittelklasse sind herausragende Erlebnisse des Lebens angesagt, mit denen man auch im persönlichen Umfeld die Besonderheit des eigenen Lebensstils dokumentieren kann. Entsprechen dem unsere Logen, die nur Menschen von gutem Ruf aufnehmen wollen und die mit alten Begriffen wie Menschenliebe, Toleranz und Brüderlichkeit ihre Mission beschreiben? In denen sich eher Menschen der alten Mittelklasse befinden, die das Gemeinschaftsgefühl und nicht das aufreizende Erlebnis des immer wieder individuell Besonderen suchen?
Und bezüglich des rechten Populismus lässt sich nur schwer vorstellen, wie wir dort Menschen finden und dann aufnehmen sollten, die sich der Menschenliebe, Toleranz und Brüderlichkeit verpflichtet fühlen. Möglicherweise muss die Freimaurerei hier sogar ganz besondere Vorsicht walten lassen, weil Verschwörungsmythiker bei uns die Deckung erkennen und die Verbreitung ihres Gedankenguts suchen.

Die aber wohl wichtigste und übergreifende Frage ist die, wie sich die Freimaurerei zwischen den beiden Polen positioniert. Zumindest die Freimaurerei, die sich auf ihre aufklärerischen Wurzeln beruft, sollte dazu beitragen, dass die freiheits- und demokratieschädlichen Potenziale der beiden Strömungen im öffentlichen Diskurs offengelegt werden. Das aber gelingt nur dann, wenn man sie in einen strukturierten Dialog einbindet.

VI.

Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass Freimaurerei mehr als je zuvor den heimeligen Logen entfliehen („Geht nun zurück in die Welt …!“) und Präsenz in der sich wandelnden Gesellschaft zeigen muss. Sie sollte einerseits verdeutlichen, dass sie sich der Diskussion zu den Themen dieser Zeit öffnet (ohne dabei als Organisation Partei zu ergreifen), aber andererseits auch beweisen, dass ein im freimaurerischen Sinne geführter Diskurs Lösungen zu den Fragen dieser Zeit hervorbringt.

Damit bin ich wieder beim Konzept der „Loge als Forum“: Es bedarf des Angebots der Freimaurerei, z.B. an den Gästeabenden und in übergreifenden Veranstaltungen im freimaurerisch geführten Gespräch zum Verständnis und zum Ausgleich der unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen beizutragen. Wir können nicht verhindern, dass der gegenwärtige gesellschaftliche Wandel oft nicht im Sinne einer freimaurerischen Kultur verläuft. Wir können aber versuchen, Brücken zu bauen und unsere Stellung im gesellschaftlichen Diskurs zu behaupten, gar auszubauen. Und damit sichern wir unsere gesellschaftliche Relevanz. Trotz oder gar wegen der Donald- und Greta-Strömungen dieser Welt.

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 3-2022 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.