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"Wer bin ich", fordern wir den Lehrling auf sich zu fragen. "Erkenne Dich selbst" lautet die Aufforderung, die an uns meist schon vor der Initiation als Suchender ergeht. Nicht nur über dem Eingang zum Tempel von Delphi ist dieser Sokratische Imperativ zu lesen, auch über den Pforten zu so manchem Tempel unseres Bundes finden sich diese Worte.
Tatsächlich kann man verschiedene Wege gehen, um diese Frage zu beantworten. Ganz sicher muss er Introspektion und Reflexion umfassen, und ganz sicher ist es im Fall der Maurerei ein geführter Gang in Gemeinschaft, geleitet von Ritualen, Symbolen und Bräuchen. Variabel ist in diesem fixen Rahmen von Bräuchen, Sitten, Regeln, Ritualen und Symbolen einerseits die Gemeinschaft an Brüdern, welche die Führung übernimmt, also die Loge, andererseits vor allem das Individuum, das sich führen lässt.
Auch wenn man die Frage nach der Identität in verschiedenen Dimensionen bedenken kann, zum Beispiel biologisch, psychologisch, philosophisch, theologisch, soziologisch oder juristisch, in verschiedenen Begriffen wie beispielsweise Person, Personalität oder Persönlichkeit, so ist die Frage nach der Identität doch immer die Frage danach, womit man sich identifiziert oder womit man identifiziert wird. Mit anderen Worten kreist die Frage nach der Identität stets um Eingrenzung und Abgrenzung, um Inklusion und Exklusion. Denn es fragt sich, untrennbar damit verbunden eben auch, womit man sich nicht identifiziert und womit man nicht identifiziert wird oder werden will.
Womit man sich selber identifiziert und womit nicht, entscheidet man weitesgehend selber, auch wenn diese Entscheidung meist alles andere als unfehlbar ist. Ich bin doch immer wieder verblüfft von der Selbstwahrnehmung, von der Eigeneinschätzung meiner Mitmenschen und Brüder. Für natürlich halte ich den Wunsch, sich mit möglichst positiven Gruppen und dort repräsentierten Eigenschaften zu identifizieren, aber nur weil man sich eine Gruppenzugehörigkeit oder Eigenschaft wünscht, wird sie eben noch nicht Realität. Wer sich selber für hilfsbereit, intelligent, warmherzig, weise, schön oder stark hält, der ist es noch lange nicht in den Augen seiner Mitmenschen oder gar hinsichtlich objektiver Kriterien. Vermutlich sehen wir uns selber, micht eingeschlossen, immer zu positiv. Und da dies wohl ein systematischer Fehler zu sein scheint, tun wir gut daran bei der Entwicklung eines Selbstbildes durch Introspektion und Reflexion inspiriert in der maurerischen Umwelt, stets ein wenig Gutheit vom Ergebnis der Selbstbetrachtung abzuziehen.
Womit man identifiziert wird und womit nicht, entscheiden wir nur indirekt oder gar nicht selber. Hier liegt die Entscheidungsgewalt in unserer humanen Umwelt. Bei der Erforschung der eigenen Identität ist es, wenngleich unangenehm, nicht selten von besonders hohem Wert, wenn man mit etwas identifiziert wird, mit dem man nicht identifiziert werden will. Wenn einem beispielsweise Brüder den Spiegel vorhalten und man sich darin als arrogant oder narzistisch sieht, dann muss man dies zunächst einmal tolerieren. Und über die Toleranz und brüderliche Hilfe hat man dann vielleicht einen Teil seiner Identität entdeckt, welcher der Selbstwahrnehmung nicht zugänglich gewesen ist und den es sich lohnt als Teil des rauen Steins zu bearbeiten.
Allerdings sind Teile unserer Identität nicht bearbeitbar. Vielleicht gibt es Rauigkeiten an unserem Stein, die wir nicht glätten können und vielleicht ist manche Rauigkeit, wenn man denn nur seine Umgebung entsprechend bearbeitet und glättet, wenn man sie entsprechend inszeniert, viel schöner als die Glattheit, die aus ihr hervorgehen könnte. Ob ich es will oder nicht, ein Teil meiner Identität ist meine Behinderung. Der Sohn eines Alkoholikers ist immer auch der Sohn eines Alkoholikers. Ob es ein in Deutschland geborener Nachfahre einer in die Bundesrepublik eingewanderten Familie, der eine Deutsche Staatsbürgerschaft hat und vom Habitus her südländisch erscheint, will oder nicht, viele werden ihn als Ausländer wahrnehmen. Und zwar in Deutschland wegen seines Aussehens, im Heimatland seiner Eltern vielleicht wegen seiner Sprache und der in der BRD erfolgten Sozialisation.
Zu einem Teil können wir werden, wer wir sein wollen, zu einem anderen Teil müssen wir sein, wer wir sind. Mit beiden Teilen können wir arbeiten, arbeiten als Menschen, arbeiten als Freimaurer. Man muss sich selber erkennen, sich Gedanken darüber machen, wer man denn sein will und eine Möglichkeit an der Hand haben, nach dem Entwurf eines Bauplans seiner selbst, diesen Bauplan mittels der passenden Werkzeuge, deren Verwendung man vorher gelernt haben sollte, umzusetzen. Und bei dieser Konstruktion des formbaren Teils der eigenen Identität sollte man jene unveränderbaren Anteile der Identität fest im Blick haben. Denn das Bearbeitete sollte harmonisch zu jenem passen, dass sich jeder Glättung widersetzt.
Bezüglich der Freimaurerei stellen sich dem Freimaurer einige sehr interessante Fragen hinsichtlich seiner Identität und möglicher Identifizierungen. Identifiziere ich mich mit einer weltweiten Freimaurerei? Mit der Freimaurerei einer oder mehrerer Großlogen auf nationaler Ebene? Oder nur mit jener Maurerei, wie sie in meiner Mutterloge gelebt wird? Kann ich mich mit der Freimaurerei, wie sie einzelne Brüder meiner oder anderer Logen, die mir gut bekannt sind und die vielleicht politisch und religiös sehr unterschiedlich zu mir sind, leben, identifizieren? Die Identifikation mit dem Wirken des einzelnen Bruders halte ich übrigens gerade hinsichtlich der wichtigen Vorbildfunktion in der Gemeinschaft als Entwicklungsmotor des Individuums für sehr wesentlich in der Freimaurerei.
Und schließlich, wie halte ich es selber mit einem Bekenntnis zur Freimaurerei? Will ich als Freimaurer identifizierbar sein? Mache ich mich für andere Brüder oder gar die Öffentlichkeit erkennbar? Und wo und wie? Jeder mag aus den verschiedensten Motivationen heraus diese Fragen unterschiedlich beantworten. Für mich ist es in gewisser Weise wichtig aus meiner Mitgliedschaft zu einer Freimaurerloge kein Geheimnis zu machen. Warum? Weil ich mich als Mensch empfinde, dessen Identität wesentlich von der Freimaurerei geprägt ist. Dies zu verheimlichen würde für mich bedeuten, einen wesentlichen Teil von mir zu verleugnen, zu verstecken.
Und letzteres, seine Identität oder maßgebliche Teile davon, zu verleugnen oder verstecken, halte ich für ungesund (Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit). Wie es eine Psychopathogenese gibt, also psychopathophysiologische und psychopathomechanistische Faktoren, die zu einer seelischen Erkrankung führen, so gibt es auch eine Psychosalutogenese, also analog psychosalutophysiologische und psychosalutomechanistische Faktoren, welche die seelische Gesundheit bedingen. Seine Identität voll erkennen und leben zu können, halte ich für eine solche Voraussetzung des seelischen Wohlempfindens, für eine Voraussetzung einen Weg in die Zufriedenheit und das eigene Lebensglück finden zu können.
Die verschiedenen Aspekte der eigenen Identität haben für uns alle unterschiedliche Bedeutsamkeit. Wer sich beispielsweise fast nur als Freimaurer sieht und den Mitmenschen bei jeder sich bietenden Gelegenheit ungefragt davon erzählt, der macht wohl auch etwas falsch. Denn grundsätzlich besteht die Gefahr, dass bei zu starker Fokussierung eines Teils der eigenen Identität andere Aspekte hinsichtlich ihrer Bedeutung verkannt werden. Aus dem Blick können dann Gruppenzugehörigkeiten und soziale Rollen geraten, die auch sehr wesentlich für uns sind. Sehr prägend sind zum Beispiel unsere berufliche Identität, familiäre Rollen oder andere Vereinszugehörigkeiten.
Ein Teil unserer Identität ist zweifelsfrei auch unsere nationale Identität. Bei starker politischer Linksorientierung wird sie gerne für irrelevant erklärt, unbeachtet gelassen oder gar gehasst. Bei starker politischer Rechtsorientierung wird sie gerne überschätzt, überhöht oder gar als Vorwand missbraucht, das Fremde und Andersartige zu hassen. Beides ist natürlich nach bestem Wissen und Gewissen zu vermeiden. Und wie in vielen Dingen ist es mit der nationalen Identität auch, je extremer und radikaler die Ausrichtung zu einem Pol hin ist, desto weniger Sinn macht sie in der Regel. Die einzige Möglichkeit die Mitte zu begünstigen, ist die Mitte zu leben.
Nicht nur diesbezüglich kann es mitunter eine Herausforderung sein sich als Freimaurer zu identifizieren und identifizierbar zu machen. Denn wenn man eine Gruppenzugehörigkeit zu einem Teil seiner Identität und Identifizierbarkeit macht, dann wird man, da Identität trotz der einzelnen sie konstituierenden Elemente doch ein ganzheitliches Phänomen bleibt, angreif-, verwund- und kränkbar. Wenn eine Aussage über “Die Deutschen” gemacht wird, dann fühle ich mich angesprochen, insofern ich mich als Deutscher empfinde, allerdings angesprochen in meiner gesamten Identität. Und wenn eine Aussage über “die Freimaurer” gemacht wird, dann fühle ich mich angesprochen, wenn ich mich als Freimaurer empfinde, angesprochen in meiner gesamten Identität. Wenn nun die mit “den Deutschen” oder “den Freimaurern” verknüpfte Eigenschaft eine positive ist, dann bin ich gerne Deutscher und Freimaurer. Was aber, wenn eine negative Aussage mit der Gruppenzugehörigkeit verbunden ist?
Es sind die Elemente der soziokulturellen Umgebung eines Menschen, die Identität schaffen. Zu diesen Elementen gehört der Beruf ebenso, wie die Nation oder die politische und religiöse Gesinnung eines Individuums. Und gerade bezüglich dieser Merkmale könnten wir uns nicht stärker unterscheiden als Freimaurer. Wer von berufswegen, beispielsweise bei Soldaten oder Polizisten häufig erkennbar, seine Identität stark an der Zugehörigkeit zu seiner Nation festmacht, der handelt wohl sinnvoll, da es vermutlich gut ist, wenn man sich mit dem, was man schützen soll, identifizieren kann. Bei anderen Berufsgruppen hingegen könnte eine zu starke Identifizierung mit der eigenen Nation hinderlich sein, zum Beispiel, wo global agiert werden muss.
Analog verhält es sich bei Politik und Religion. Der identitätsstiftende Aspekt einer Parteimitgliedschaft oder einer Konfession ist für das Individuum sehr häufig wesentlich. In der Freimaurerei kommt es zu dem sehr interessanten Effekt, dass Menschen auch zusammenkommen, um eine Identität zu teilen, sich auf das Selbe zu beziehen, bei dem Versuch sich selber zu definieren, aber in anderem Kontext größten Wert darauf legen, sich durch ihre hervorgehobene Gruppenzugehörigkeit zu einer Nation, Berufsgruppe, politischen Partei oder religiösen Konfession von den selben Menschen, mit denen sie in den Logen zusammenkommen, zu unterscheiden und abzuheben.
Ob in der Freimaurerei oder in anderen Zusammenhängen, die Identität bleibt stets eine Frage von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, von Inklusion und Exklusion, von Eingrenzung und Abgrenzung. Beenden will ich meine Zeichnung mit einer sehr wichtigen Charakterisierung von Identität. Wie geschildert bin ich überzeugt, dass wir selber einen Teil unserer Identität durch Arbeit am rauen Stein formen sollten. Überdies bleibt ein Teil unserer Identität unveränderbar. Was wir aber immer und stets machen sollten, dass ist die Bedingungen aktiv zu gestalten, unter denen sich Identitäten ergeben. Determinant für die Genese von Identitäten sind, wie gesagt, die soziokulturellen Umstände, die in jenen Räumen herrschen, in welchen sich die Identitäten konformieren (Freimaurerei ist ein solcher Raum).
Es erscheint mir in hohem Maße sinnvoll eben diese sozialen und kulturellen Einflussgrößen, welche letztlich Identität bedingen, selber zu schaffen, zu variieren und in einem positiven Sinne zu kreieren und konstruieren. Freimaurerei macht genau das auf verschiedenen Ebenen. Dadurch, dass sie Traditionen, Bräuche und Sitten hervorbringt und bewahrt, dadurch, dass sie Kultur schafft und erhält, dadurch, dass sie Gemeinschaft bringt und schützt, dadurch, dass sie Werte lebt und konserviert. Möge die Freimaurerei ob ihrer identitätsstiftenden Kraft und ob der Freude, die sie bringen kann, noch lange leben.
Kommentare stellen die Meinung des Verfassers dar, nicht zwingend die der Großloge oder der Mehrheit der Bruderschaft. Sie sollen die Vielfalt der Anschauungen in der humanitären Freimaurerei darstellen.
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