Erwiderung auf den Beitrag von Br. Harald Leipertz: „Zur Verteidigung des Politischen in den Logen“ („Humanität“ 5/2020)
Ziel meines Artikels unter der Überschrift „Schwierigkeiten mit dem ‚Tempel der Humanität‘“ in Ausgabe 3/2020 der „Humanität“ war es, eine Diskussion über extreme politische Meinungen und den Umgang damit in den Logen anzuregen. Daher freue ich mich über den Beitrag von Br. Harald Leipertz, der meiner Meinung nach interessante Denkanstöße gibt.
Der Autor kommentiert, bevor er expliziert seine Meinung zum Politischen in Logen beschreibt, ausführlich meinen Artikel. So sehr ich mich über die Auseinandersetzung freue – bei einigen Passagen habe ich mich gefragt, welchen Artikel er gelesen hat.
Damit meine ich nicht primär, dass er ein Zitat einfügt, das so im Artikel nicht auftaucht – das kann passieren.
Nur Vernunft und Logik sind allen Menschen zugänglich
Zunächst: Die Ausgrenzung politischer Extreme ist in der Tat politisch – habe ich an einer Stelle behauptet, dem sei nicht so? Vielmehr schreibe ich, dass es paradoxerweise „unter Menschen nicht möglich (ist), unpolitisch zu sein“. Auch Schweigen, Ignorieren und Nichtstun ist somit politisch – die Entscheidung, was extreme Ansichten sind und wie damit umzugehen sei, ist aber nach meiner – im Beitrag beschriebenen – Auffassung auch politisch. Etwas anderes zu behaupten wäre in der Tat inkonsequent. Dass ich die Auseinandersetzung mit tagespolitischen Themen in Logen (als offizieller Tagungspunkt) kritisch sehe, ist davon unabhängig.
Während meiner Arbeit an diesem Text, am 21. Juli, wurde gerade im Deutschlandfunk über den Prozessauftakt gegen den mutmaßlichen Täter des Anschlages in Halle berichtet. In einem Kommentar wurde deutlich, dass der mutmaßliche Täter sich von extrem rechten Aussagen, wie sie auch bei der AfD zu finden sind, leiten ließ. Anders formuliert: Aus Worten wurden Taten. Als promovierter Soziologe ist sich Bruder Harald sicherlich dessen bewusst, dass vor einer derartigen Tat eine Planung, also ein Gedanke, steht. „Am Anfang war das Wort“ (logos), wie es in Johannes 1, 1 steht. Das ist keine neue Erkenntnis und hat mit dem Begriff „gedankenpolizeiliches Korsett“ nun wirklich nichts zu tun. Der Autor wird sicherlich auch den Hintergrund zum Kategorischen Imperativ kennen. Hier geht es um ethische Fragen. Etwas naiv (aber deswegen nicht falsch) formuliert: Wie kann moralisches Handeln definiert werden, so dass tatsächlich alle Menschen damit einverstanden sein können? Religiöse Begründungen sind nicht hilfreich – nicht alle glauben an dieselbe Sache und nicht alle Menschen akzeptieren dieselben heiligen Schriften, Atheisten sowieso nicht. Mitleid (frei nach Schopenhauer) ist auch nicht hilfreich – es soll ja Menschen geben, die emotionslos sind. Um es kurz zu fassen: Vernunft und Logik sind grundsätzlich allen Menschen gleichermaßen zugänglich, unabhängig von Kultur, Glaube, Geschlecht etc. Ob sie den Mut und den Willen haben, Vernunft und Logik zu benutzen, steht hier nicht zur Debatte, ebenso wenig wie die Frage, ob wir in einem aufklärenden oder aufgeklärten Zeitalter leben. Sie könnten – darum geht es. Richtig ist, dass ich mich aus gutem Grund gescheut habe, zu definieren, was genau „Menschenliebe“ ausmacht. Bruder Harald wird nicht entgangen sein, dass ich im Vorfeld einige Überlegungen angestellt habe, um meine gedanklichen Schritte zu begründen, die ich hier nicht wiederholen muss. Das Ergebnis aber ist für mich: Menschenliebe kann nicht konträr zur Moral stehen. Wenn jemand vorgibt, aus „Menschenliebe“ zu handeln und damit gegen ethische Grundsätze verstößt, so kann man, meiner Meinung nach, seine Menschenliebe zumindest in Zweifel ziehen (als Philosoph bin ich nicht so naiv anzunehmen, dass jederzeit und zu allen Themen ein eindeutiges Urteil möglich ist).
Ganz nah an der Idealgesellschaft?
Dass meine Ausführungen Assoziationen zur Gedankenkontrolle à la Orwell auslösen könnten, ist, diplomatisch formuliert, wohl ein Missverständnis. Die logischen Schritte, die zu dieser Überlegung führen, erschließen sich mir nicht.
An keiner Stelle formuliere ich, dass wir in einer Idealgesellschaft leben. Vielmehr schreibe ich, unsere demokratische Ordnung kann nicht perfekt sein, da sie von Menschen gemacht ist. Ich persönlich weiß nicht einmal, wie eine perfekte Gesellschaft aussehen könnte. Eckpfeiler könnten sein:
- Herrschaft des Rechts im Sinne von Rechtsstaatlichkeit,
- die Würde der Menschen wird nicht angetastet,
- Solidargemeinschaft,
- persönliche Freiheiten werden garantiert (mit wohl definierten Grenzen, sonst bräuchte man kein Recht),
Gewaltenteilung.
Um diese Kriterien kurz zu begründen (wenn auch nur idealtypisch):
- Rechtsstaatlichkeit schützt uns vor staatlicher Willkür und hilft, Streitigkeiten friedlich zu schlichten. Das setzt voraus, dass Vertrauen zu den Gerichten und staatlichen Institutionen im Allgemeinen besteht.
- Jeder Mensch soll so respektiert werden, wie er ist – seine körperliche und psychologische Unversehrtheit muss bewahrt werden und damit seine Würde. Das gilt grundsätzlich für alle, auch für Verurteilte, egal weswegen sie verurteilt wurden.
- Es gibt immer Menschen, die aus irgendwelchen Gründen die Solidarität anderer benötigen.
- Die persönliche Freiheit endet immer dort, wo andere Menschen in Freiheiten, Rechten und Würde verletzt werden (eine absolute Freiheit ist also weder möglich noch wünschenswert).
- Die Gewaltenteilung schützt vor einer zu starken Machtkonzentration, die schnell in einer Diktatur enden könnte.
Ich stehe dazu, dass meiner Meinung nach nur Demokratien diese Kriterien überhaupt erfüllen können. Auch mir ist bewusst, dass die demokratische Staatsform eine schlechte ist, aber nun mal die beste, die die Menschheit bisher entwickelt hat (um Churchill sinngemäß zu bemühen). Warum? Nun, welche andere Regierungsform kann die oben genannten Kriterien erfüllen, und zwar aus eigenem Verständnis heraus? Allerdings ist die Demokratie wohl auch die einzige Staatsform, die sich selber abschaffen kann. Denn sie verlangt dem einzelnen Individuum sehr viel ab: In einem demokratischen Staat muss man sich beteiligen, man muss Entscheidungen fällen, die vorher besser gut abgewägt werden sollten. In einer Diktatur muss man nur funktionieren, politisch denken darf man ausschließlich im Sinne des Diktators (bzw. im Sinne der herrschenden Partei). Die Idee einer harmonischen Gesellschaft, wie sie der chinesische Philosoph Zhao Tingyang entwirft, mag zwar sympathisch sein, hat aber ihre Tücken. Wer entscheidet, wie diese Harmonie auszusehen hat? Und sollen vermeintliche Störer dieser Harmonie verfolgt werden, wie die Uiguren in China?
Wann ist Widerstand gerechtfertigt?
Demokratie setzt einen freien Wettbewerb der Meinungen voraus. Dieser Wettbewerb ist nur möglich, wenn Meinungsfreiheit garantiert ist. Mehrheiten können wechseln, Meinungen zu politischen Themen ebenfalls. Wie eine ideale Gesellschaft aussehen könnte, wird wohl diskutiert, seit der Mensch diese Gedanken formulieren kann. Die Vorstellungen einer idealen Gesellschaft wechseln jedoch stetig, genauso wie die Ansichten, in welche Richtung sich eine Gesellschaft entwickeln sollte. In einer Demokratie müssen die Rahmenbedingungen gegeben sein, diese Diskussionen führen zu können. Wenn Bruder Harald nun von Orwell spricht, meint er wohl die Gesellschaft und Herrschaft, wie sie im Roman „1984“ formuliert ist. Der „Große Bruder“ ist wohl kaum als ein Herrscher zu bezeichnen, der oben genannte demokratische Prinzipien einhält. Meine Gedanken damit zu vergleichen, weise ich daher von mir.
Das aber bedeutet nicht, dass ich nicht zum Ideal der „wehrhaften Demokratie“ stehe. Wer Gedanken äußert, die die gleiche Würde aller Menschen in Frage stellt (weil er beispielsweise Würde mit einer bestimmten Hautfarbe verbindet), wer gegen die Solidarität mit seinen Mitmenschen ist (bzw. Solidarität beispielsweise an „Volksgenossenschaft“ als Bedingung knüpft), wer gegen die Gewaltenteilung ankämpft, der stellt die freiheitliche demokratische Ordnung aus meiner Sicht in Frage. Wer dies tut, will mutmaßlich eine Diktatur errichten. Was das aber bedeuten kann, hat die Menschheit schon öfter ausprobiert und tut es leider in einigen Teilen der Welt nach wie vor. Deswegen hört an dieser Stelle die Toleranz auf. Und nein, nicht: „Dank den Rassisten und Faschisten, da man ansonsten nicht tolerant sein kann“. Bruder Harald wird hier polemisch, leider scheint er die Intention meines Artikels nicht verstanden zu haben. Denn Toleranz bedeutet nun mal, Grenzen zu ziehen. Toleranz bedeutet, eine Auffassung zu akzeptieren, ohne sie zu mögen, weil diese Auffassung sich innerhalb des demokratischen Rahmens bewegt. Rassisten und Faschisten toleriere ich nicht. Denn diese bewegen sich nun einmal außerhalb des demokratischen Spektrums.
Bedeutet nun „wehrhafte Demokratie“, dass ein „Tyrannenmord“ gerechtfertigt werden kann? In der Tat gibt es ein Widerstandsrecht, wenn eine Regierung versucht, die demokratische Grundordnung auszuhebeln (das sind die Lehren aus der NS-Diktatur). Durch dieses Widerstandsrecht ist aktiver Widerstand erst dann gerechtfertigt, wenn alle legalen und gewaltfreien Mittel erschöpft sind. Außerdem muss der Widerstand auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Personen wie Gandhi und Martin Luther King haben gezeigt, wie erfolgreich man mit gewaltfreien Mitteln Veränderungen auch gegen hartnäckigen Widerstand durchsetzen kann. Allerdings: Wie realistisch ist es, ohne Gewalt vorzugehen, wenn eine Diktatur erst einmal gefestigt ist, wie bei Hitler, Stalin oder Pol Pot? Ist also „Tyrannenmord“ erlaubt, gibt es hierfür eine Ausnahme zu dem moralischen Gebot: „Du sollst nicht töten“? Das ist eine schwere moralische Frage; abgesehen davon, dass es nicht immer leicht ist, den Punkt zu nennen, an dem ein Politiker gerechterweise als Tyrann zu bezeichnen ist, der auf legalem Weg nicht mehr zu stoppen ist. In der aktuellen Weltpolitik lassen sich vielleicht solche Personen finden – in der Bundesrepublik Deutschland mit Sicherheit nicht. Wenn sich also hier und heute jemand auf das o.g. Widerstandsrecht beruft und zum „Tyrannenmord“ auffordert, ist das nicht nur unverhältnismäßig, sondern auch unmoralisch und in keiner Weise zu rechtfertigen. Daher: Vorsicht mit dem Recht auf Widerstand, das darf nicht zu leichtfertig genommen werden, die Gefahren sind riesig und sehr komplex.
Keine Tagespolitik in den Logen!
Br. Harald würde es begrüßen, wenn tagespolitische Themen in der Loge behandelt werden. Seine Argumente dazu sind bemerkenswert. Persönlich sehe ich es kritisch, Alltagspolitik in die Logen zu bringen. Die Gefahr, dass sich hier Gräben auftun und die Bruderschaft sich spaltet, sind groß. In den „Alten Pflichten“ werden nicht ohne Grund politische und religiöse Themen aus der Loge verbannt. Aber ich gebe ihm in einem Punkt Recht: Seit die „Alten Pflichten“ aufgeschrieben worden sind, hat sich einiges geändert. Die Logen, die sich immer wieder bemühen, Traditionen und zeitgemäßes Handeln zu verbinden, tun gut daran, sich in einigen Punkten neu aufzustellen. Dabei könnten mit viel Umsicht politische, später vielleicht auch religiöse Themen behandelt und diskutiert werden. Das aber muss mit Vorsicht geschehen, eine überhastete Aktion kann viel Schaden anrichten. Bruder Jürgen Streich hat in Ausgabe 3/2020 der „Humanität“ einen Aufruf gestartet, Freimaurerei zu modernisieren. Vielleicht kann hier ein Konzept ausgearbeitet werden? Dafür stehe ich gerne zur Verfügung.

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 6-2020 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.