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Unter dem Vorzeichen der Corona-Pandemie ist vieles anders geworden in der Freimaurerei, und das muss immer wieder bedacht und berücksichtigt werden. Doch muss auch das weiterhin Gültige, das Unbeschädigte unseres Bundes im Bewusstsein der Brüder gehalten werden, damit die Grundlagen für zukünftiges Gestalten vorhanden bleiben.
Teil 1 eines Beitrages über Entwicklung und Arbeitsfelder der Freimaurerforschung
Zu diesen Grundlagen gehört die freimaurerische Forschung, die dafür sorgt, dass das Wissen um Wesen und Struktur des Bundes entwickelt und vertieft wird. Denn ohne die Grundzüge der Freimaurerei in ihrer historischen Entwicklung und ihrer Verortung in der Zeit zu kennen, kann man sie nicht hineintragen in die Gesellschaft und als Element von Sinn und Ordnung wirken lassen für sich selbst und andere Menschen. Die Freimaurerforschung in ihren Grundzügen vorzustellen, ist die Aufgabe des folgenden Beitrags. Vielleicht gelingt es mir ja auch, neue Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für die Wissenschaft von der Königlichen Kunst zu gewinnen.
Die Freimaurerei hat ein einfaches Grundprinzip: Menschliche Verbundenheit, ethisches Verhalten sowie die Suche nach Sinn und Orientierung sollen durch Symbole und Rituale in der Gemeinschaft der Loge eingeübt werden. Geschichte, Symbolik und Sozialstruktur der Freimaurerei sind jedoch äußerst facettenreich, vielschichtig und kompliziert. Deshalb ist im Laufe der Zeit – beginnend bereits im späten 18. Jahrhundert – eine multidisziplinäre freimaurerische Forschung entstanden, die versucht, Geschichte, Rituale und Symbole sowie organisatorische Strukturen und soziale Bedingungen der Freimaurerei im internationalen Vergleich analytisch aufzuklären.
Das Motto dafür findet sich in Gotthold Ephraim Lessings Schrift „Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer“ (1778/80): „Ich glaube ein Freimaurer zu sein; nicht sowohl, weil ich von älteren Maurern in einer gesetzlichen Loge aufgenommen worden: sondern weil ich einsehe und erkenne, was und warum die Freimaurerei ist, wann und wo sie gewesen, wie und wodurch sie befördert oder gehindert wird.“ Die Freimaurerische Forschung folgt dem Motto Lessings: Sie will erkennen, was und warum die Freimaurerei ist, wann und wo sie gewesen, wie und wodurch sie befördert oder gehindert wird.
Inzwischen wurden viele Tausende von Büchern und Artikeln veröffentlicht, Forschungsgesellschaften und Forschungslogen gegründet, universitäre Forschungsprogramme entwickelt (wie mein Kollege Jörg Bergmann und ich selbst es auch einmal an der Universität Bielefeld versucht haben), ja: es wurden sogar spezielle Lehrstühle in Leiden und (zeitweilig) in Sheffield eingerichtet.
Freimaurerische Forschung beruht auf einem doppelten Interesse, dem Interesse von innen und dem Interesse von außen. Das Interesse von innen beruht auf dem Umstand, dass Freimaurerei von Anfang an ein Geheimnis für die Freimaurer selbst war. Dies galt für ihre Entstehung (Lessings wann und wo gewesen?) ebenso wie für Inhalt und Zweck (was und warum ist Freimaurerei?). Das Interesse von außen existiert in einer gegnerischen, ja bösartigen und einer freundlichen Variante. Gegnerisch und bösartig sind die Versuche, wissenschaftliche Forschung (oder was man dafür hält) im Kampf gegen die Freimaurerei einzusetzen.
Dies gilt für kirchliche, insbesondere katholische Sichtweisen, dies gilt für völkische Positionen wie die der Nationalsozialisten: Beschlagnahmtes Logenmaterial sollte in der 1930er Jahren der „wissenschaftlichen Enthüllung des wahren Charakters der Freimaurerei“ dienen.
Die freundliche Variante bildet die universitäre Forschung, die vor allem seit den 1950er Jahren einsetzte und mit Reinhart Kosellecks Dissertation „Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt“ (1959) einen ersten Höhepunkt fand. Es ging um die Erforschung der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts, um die Erörterung der Bedeutung der Freimaurerei für den gesellschaftlichen und politischen Wandel, für Entstehung und Entwicklung von Geselligkeit und Freundschaft sowie von esoterischer Kommunikation innerhalb der so populär gewordenen geheimen Gesellschaften. Bielefeld hatte die Rolle eines Zentrums: zu nennen sind Reinhart Koselleck, Rudolf Vierhaus, Johannes Rogalla von Bieberstein, Ullrich Wehler, Stefan Ludwig Hoffmann und Jörg Bergmann, das Forschungsprojekt „Deutsche Freimaurerei der Gegenwart“, das Netzwerk „Freimaurerforschung“ (www. freimaurerforschung.de). Ich werde später den Gesichtspunkt „externe Forschung“ noch einmal aufnehmen.
Zunächst aber zur Innenperspektive: Freimaurerei als Geheimnis für die Freimaurer selbst.
Die Entwicklung der Freimaurerei wurde von den Mitgliedern des Bundes zwar immer primär und spontan als Gestaltungsaufgabe verstanden, aber zu Reflexion und Forschung ist es stets nur ein kleiner Schritt gewesen. Gewiss wollten die Brüder – genauer gesagt: die administrativ führenden und konzeptionell tonangebenden unter ihnen – vor allem das Leben ihrer Logen gestalten, Großlogen bilden sowie neue rituelle Erlebnisformen und Grade in die Freimaurerei einführen. Doch in Verbindung damit setzte sehr früh, als Vorstufe zur späteren Forschung, eine intensive Reflexion über Ideenwelt, Rituale, Stilprinzipien und Organisationsstrukturen der Freimaurerei ein.
Hierfür gibt es verschiedene Gründe:
Zunächst ergab sich für die Freimaurerei bereits dadurch von Anfang an Reflexionsbedarf, dass sie Formen, Zeichen und Riten im Vollzug des historischen „crossovers“ von der operativen zur spekulativen Freimaurerei auf einen ethisch-sozialen Kontext übertrug. Bereits im siebzehnten Jahrhundert (und noch davor) entstand die Freimaurerei in Schottland, 1717 kam es zur „Großloge von London und Westminster“, 1723 wurde die erste Satzungsurkunde (Konstitutionen, „Alte Pflichten“) veröffentlicht. James Anderson hatte dazu Prinzipien formuliert: Der Freimaurer ist dem Sittengesetz verpflichtet, die Menschen in den Logen sollen gut und redlich sein, und der Bund der Maurer soll Männer in Freundschaft zusammenbringen, die sich sonst nie begegnet wären.
Doch Anderson lässt es nicht dabei. Er gibt seinen „Konstitutionen“ eine Chronik der Baukunst bei, in der Wort wörtlich zu lesen ist: „Adam unser Vater, geschaffen nach dem Bilde Gottes, des großen Baumeisters der Welt, muss die freien Künste, insbesondere die Geometrie, in seinem Herzen getragen haben, denn er lehrte sie seine Söhne, und die Familien beider betätigten sich als Bauleute, bis Noah die Arche baute, die sicherlich nach den Gesetzen der Baukunst errichtet war, und so retteten Noah und seine drei Söhne Kenntnisse der Baukunst in die neue Welt …“ und so weiter und so fort.
Warum ein solcher Gründungsmythos? Warum eine so fragwürdige Herkunftserzählung?
Nun: eine Bauhütte, die Kathedralen baut, die „operativ“ ist und dies von Jahrhundert zu Jahrhundert, braucht keine Begründung, ihr Bauen versteht sich aus sich selbst heraus von allein. Doch eine moralische Werkstatt, eine spirituelle Institution, die neu ist – wie die Freimaurerei zu Beginn des 18. Jahrhunderts – und die sich durchsetzen will in der üppig sprießenden Welt der geselligen Assoziationen Londons, die braucht vor allen Dingen eines: die Reputation eben nicht neu, sondern uralt zu sein – und darum also die Formel: „Adam unser Vater, geschaffen nach dem Bilde Gottes, des großen Baumeisters der Welt, muss die freien Künste, insbesondere die Geometrie, in seinem Herzen getragen haben.“
Dieser, gleichsam „ontologische“ Begründungsbedarf der Freimaurerei wurde bald doppelt verstärkt: zum einen durch Angriffe von außen, die argumentativ begründete Apologien erforderlich machten, zum anderen durch innere Auseinandersetzungen, mit denen um die „echte und eigentliche“ Form der Freimaurerei gerungen wurde.
Freimaurerei war zwar durch bestimmte Grundelemente bestimmt, die über Länder und Zeiten hinweg dieselben blieben. Zu diesen Merkmalen der freimaurerischen Grundstruktur gehörten und gehören insbesondere die folgenden vier:
1.
die abgeschlossene, durch verschwiegene Rituale geschützte, in der Regel männerbündische Gruppe,
2.
der initiatische Charakter der Rituale,
3.
die ins Hermetisch-Esoterische erweiterte und später mit der Schaffung von Hochgradsystemen durch Rittersymbolik überhöhte Bausymbolik sowie
4.
ein Kanon von Werten und religiösen Orientierungen, der um unterschiedliche, teils aufklärerisch-humanitär, teils religiös und/oder esoterisch geprägte Begrifflichkeiten wie Menschenliebe, Brüderlichkeit, Duldsamkeit (Toleranz), Gottesfürchtigkeit, Glauben und Erleuchtung kreist.
Die genannten Elemente erwiesen sich aber schon früh als sehr unterschiedlich ausgestaltbar. Das heißt, in ihren Zielen, Formen und Ritualen erwies sich die Freimaurerei bei aller Übereinstimmung in den genannten Grundelementen zugleich als „Raum, in dem vieles möglich war“ (Monika Neugebauer-Wölk) und um dessen Ausfüllung kontinuierlich gerungen wurde. So gab es nie nur eine Freimaurerei, sondern viele!
Warum dieser Prozess der Differenzierung? Vor allem wegen der unterschiedlichen Motivationen für die gesellschaftliche Nachfrage nach Freimaurerei! Da existierten:
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religiöse Motive: die Suche nach einer alternativen, lichten, esoterischen Religiosität;
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philosophische Motive: die Nutzbarkeit der Loge als Stätte des Aufklärungsdiskurses;
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soziale Motive: die Chance von sozialer Einbindung, Selbstverwirklichung, Statuserhöhung sowie
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politische Motive: indirekt „Freiheit im Geheimen als Geheimnis der Freiheit“ (Koselleck) und direkt ökonomische und politische Projekte der „Strikten Observanz“ und Konzepte der Illuminaten als Träger radikaler Aufklärungspolitik.
Reflexion und Forschung
In Zeiten von Krisen freimaurerischer Systeme und der Suche nach neuen Formen wird der Bedarf an Modellen und ihrer analytischen Begründung besonders dringlich. Für die Krise der deutschen Freimaurerei unter dem Vorzeichen der „Strikten Observanz“ in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Versuche des Wilhelmsbader Konvents von 1782, die Krise zu überwinden, hat Ernst Traugott v. Kortum, für die polnische Delegation Teilnehmer in Wilhelmsbad, den Zusammenhang zwischen Fehlentwicklungen und analytischen Erfordernissen anschaulich beschrieben:
„Die Freimaurerei, diejenige Gesellschaft, welche, so alt sie auch sein mag, doch erst jetzt seit etlichen zwanzig Jahren in mancherlei Bezug besonderes Aufsehen macht, … wird nun, da sie anfängt, sich ihrer … Auflösung zu nähern, ein öffentlicher Gegenstand kritischer Untersuchungen, Geschichts-Vergleichungen und historischer Nachspürungen, nachdem sie fast ein ganzes Jahrhundert von der einen Seite gepriesen, von der anderen verdammt wurde, und ihr Ursprung hier von Gott, dort vom Teufel hergeschrieben worden ist, ohne sich für beides auf historische Beweise einzulassen“ (zitiert nach Hammermayer, Ludwig: Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782, Heidelberg 1980, S.5).
Seit Ende des 18. Jahrhunderts etabliert sich die Forschung in der Freimaurerei. Sie hat große Bedeutung für die „Reformer“, wie nicht zuletzt Friedrich Ludwig Schröder, denn wenn die „Wiederherstellung der ursprünglichen Freimaurerei“ das Ziel war, so musste man wissen, was die „Ursprüngliche Freimaurerei“ war.
Neben die Forschung traten die konzeptionellen Denker. Vier Autoren vor allem sind hier von herausragendem Interesse:
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Gotthold Ephraim Lessing,
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Johann Gottfried Herder,
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Karl Christian Friedrich Krause und
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Johann Gottlieb Fichte.
Das „laute Denken” dieser vier sowie die Rezeptionsgeschichte um sie herum kennzeichnet beinahe schon im Alleingang die gleichsam „goldene Epoche” der Freimaurerdiskurse in Deutschland, deren Niveau kaum je wieder erreicht wurde.
Der „klassische Freimaurerdiskurs” hat mindestens vier übereinstimmende Bezugspunkte:
1.
die Faszination der Freimaurerei, die alle Autoren nicht loslässt,
2.
die Vielfalt, ja der desolate Zustand der Freimaurerei in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, der den Bund vor die Alternative Untergang oder Neukonzeption und Reform stellt,
3.
das Gefühl der Formbarkeit der Freimaurerei (mit Fichtes Worten: der Wunsch „auf die tabula rasa der Freimaurerei etwas zu schreiben, was ihrer würdig ist”) und
4.
das Bestreben, Freimaurerei in den Kontext des jeweils eigenen Denkens einzufügen.
Die Teilnehmer am Diskurs geben nun unterschiedliche Antworten in Bezug auf Institution und Funktion der Freimaurerei:
Fichte – mitten im Reformprozess formulierend – bleibt am stärksten der institutionellen Freimaurerei verhaftet. Ihm geht es um die Frage, ob es einen überzeugenden Zweck für die Loge gibt, und er antwortet mit dem Hinweis auf den Auftrag der Loge, „durch Ausgehen von der Gesellschaft und Absonderung von ihr … die Nachteile der Bildungsweise in der größeren Gesellschaft wieder aufzuheben und die einseitige Bildung für den besonderen Stand in die gemein menschliche Bildung, in die allseitige des ganzen Menschen, als Menschen zu verschmelzen”.
Herder geht am weitesten über die institutionelle Freimaurerei hinaus: „Alle solche Symbole mögen einst gut und notwendig gewesen sein, sie sind aber, wie mich dünkt, nicht mehr für unsere Zeiten. Für unsere Zeiten ist das Gegenteil ihrer Methode nötig, reine helle offenbare Wahrheit.“ Später freilich – in der Zusammenarbeit mit Schröder – modifiziert er seine Auffassung.
Krause vertritt mit der Auffassung, „nach der Reinigung von einigen zunftmäßigen und kritikwürdigen Bestandteilen“ könne das „ganze überlieferte Gebrauchtum“ in den von ihm entworfenen „Menschheitsbund“ eingearbeitet und damit zugleich aufbewahrt und überwunden werden, wiederum eine andere Variante des „Stufenmodells“ der Freimaurerei.
Für Lessing bleibt Freimaurerei auch als Institution von Bedeutung, doch ihre Funktion geht über die Institution hinaus und ist bei Weitem wichtiger, beruht Freimaurerei für Lessing doch „im Grunde nicht auf äußerlichen Verbindungen, die so leicht in bürgerliche Anordnungen ausarten, sondern auf dem gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister“. Auch Lessing ist von der Faszination der Freimaurerei gefesselt. Auch er kritisiert die konkrete Form des Bundes, dessen „heutiges Schema ihm gar nicht zu Kopfe“ will. Auch ihn fordert heraus, die Wesenheit der Freimaurerei auf den bestimmten Begriff einer wahren Ontologie zu bringen und aufzuzeigen, „was und warum die Freimaurerei ist, wenn und wo sie gewesen, wie und wodurch sie befördert oder gehindert wird“. Er tut dies – vor allem, aber nicht nur in „Ernst und Falk“ – als Anwalt einer Kultur der Vermittlung, die Grenzen überschreitet, deren Medium und Ziel Freundschaft, Toleranz und Menschenliebe sind, und die sich in einem offenen Prozess der Wahrheitssuche realisiert.