
Als Kernaufgabe des Freimaurerbundes in der Gegenwartsgesellschaft kann die Suche nach einer unverwechselbaren, kraftvollen freimaurerischen Identität verstanden werden. Hinter dieser Feststellung steht die – teils gefühlte, teils bewusst gemachte – Einsicht, dass Freimaurerei ohne Wissen darum, was sie ist und sein kann, auf Dauer nicht bestehen kann.
Meistens beruft sich die Freimaurerei auf ihre Geschichte, wobei das aus heutiger Sicht Positive der Vergangenheit, insbesondere der um die Begriffe Menschlichkeit, Brüderlichkeit und Toleranz kreisende Wertekanon des Bundes, in aller Regel in den Vordergrund gerückt wird, während negative und diffuse Erscheinungsbilder verschwiegen oder verdrängt werden. Ein ethischer Bund, der sich selbst ernst nimmt und der von der Gesellschaft ernst genommen werden will, darf jedoch nicht so verfahren. Er muss sich Gedanken über sich selbst machen und sich in seiner Selbstreflexion von den hohen Maßstäben leiten lassen, die er für sich selbst beansprucht, kurz: Er muss sich auf die Tragfähigkeit seiner Identität in Konzeption und Wirklichkeit befragen lassen.
Einige Überlegungen zur freimaurerischen Identität sollen im Folgenden zur Diskussion gestellt werden.
I.
Nach Identität als einem selbstbewussten Einssein mit sich selber kann sowohl für den einzelnen Freimaurer als auch für die verschiedenen freimaurerischen Gruppen (Logen, Großloge, Leitungsgremien etc.) gefragt werden.
Was die individuelle freimaurerische Identität betrifft, so hat ein Freimaurer als Maurer („by his tenure“, wie die Alten Pflichten sagen) unabhängig von seinen individuellen Wertvorstellungen und seinem spezifischen Selbstverständnis als Mensch, Mann, Berufstätiger, gläubiger oder nichtgläubiger Mensch etc. dann Identität, wenn er überzeugend, fundiert, redlich und erkennbar hinter seinen freimaurerischen Vorstellungen steht und wenn sich seine freimaurerischen Auffassungen auch im Alltag bewähren.
Je größer die Zahl der Brüder mit überzeugender freimaurerischer Identität ist, desto besser lassen sich die Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben des Bundes lösen. Wir alle müssen uns folglich um diese individuelle maurerische Identität bemühen, auch wenn wir immer wieder scheitern und der „Raue Stein“ ein treffliches Symbol für uns bleibt. Über die Werkzeuge zur Identitätsfindung verfügen wir in reichen Maß, sei es die tolerante Mitmenschlichkeit in der Loge, sei es der kritisch-selbstkritische Diskurs der Brüder, sei es das Ritual, in dem es ja im Grunde um nichts anderes geht als um Bestimmung, Einübung und Verinnerlichung von Identität.
Unter freimaurerischer Gruppenidentität sollen Selbstverständnis und Ausdruck, Konzeptionen und Art und Weisen der Umsetzung von Konzeptionen verstanden werden, wie sie für eine Gruppe von Freimaurern (Logen, Großloge) in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort kennzeichnend sind. Wie bei den einzelnen Freimaurern gibt es bei freimaurerischen Gruppen solche mit einer starken, überzeugenden, griffigen und solche mit einer schwachen, verschwommenen Identität.
Die Identität freimaurerischer Gruppen setzt sich jeweils aus zwei Komponenten zusammen:
- aus inhaltlichen Elementen wie Konzeptionen und Zielvorstellungen
- sowie aus der Art und Weise, wie diese inhaltlichen Elemente in der Gruppenpraxis umgesetzt werden, d.h. aus der Qualität des Gruppenprozesses.
Hier sind menschliche Atmosphäre, intellektuelle und emotionale Lebendigkeit, Einsatzbereitschaft, Teamfähigkeit, Diskursqualität, Ausstrahlung (Charisma) etc. wichtige Stichworte.
Beides, Inhalte und Gruppenqualität, muss zusammenkommen. Eine schwache Gruppenidentität (und damit unzureichende Wirkung nach innen und außen) liegt dann vor, wenn sich verschwommene Inhalte mit mäßiger oder keiner Ausstrahlung verbinden; eine starke Gruppenidentität und intensive Wirkung nach innen und außen kann dagegen da angenommen werden, wo klare Inhalte und überzeugende Umsetzung vorhanden sind.
II.
In der freimaurerischen Diskussion wird im Allgemeinen die Notwendigkeit betont, an der Profilierung der konzeptionellen Inhalte der Freimaurerei (Ziele, Wertvorstellungen) zu arbeiten. Auch aus meiner Sicht ist es wichtig, ein konzeptionell klares Bild des Bundes zu entwickeln. Auf der anderen Seite wäre es gefährlich, bei der Formulierung programmatischer Plattformen zu weit zu gehen und der Gefahr einer Ideologisierung zu erliegen. Dies würde intellektuell aufgeschlossene Männer nur abstoßen. Diese kommen ja gerade deshalb zur Freimaurerei, weil wir bei aller Wertgebundenheit geistig offen sind. Wer als geistig offener Mann Kontakt zur Freimaurerei sucht, ist wohl eher an toleranten Such- und Orientierungsprozessen als an verbindlich vorgegebenen Positionen interessiert. Daher ist es so wichtig, jedem Fundamentalismus abzusagen, die Gruppenqualität der Freimaurerei zu verbessern sowie dafür zu sorgen, dass inhaltliche Abklärungen auf jedes dogmatische Ausformulieren verzichten und sich mit einem hohen menschlichen Niveau sowie mit intellektueller Redlichkeit verbinden.
Zur inhaltlichen Bestimmung freimaurerischer Identität wurden von mir einige Eckpunkte herausgearbeitet, die mittlerweile ihren Weg durch die deutsche Bruderschaft gemacht haben und gern (mit oder ohne Nennung ihrer Herkunft) verwendet werden. Auch die Großloge der Alten, Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (GL A.F.u.A.M.) macht inzwischen auf ihrer Webseite von ihnen Gebrauch.
Mir ging es dabei darum, Anhaltspunkte dafür bestimmen, was Freimaurerei ist, und was sie nicht ist, bzw. nicht sein will, und ich habe formuliert:
- Freimaurerei ist Freundschaftsbund, ethisch orientierte Gemeinschaft, symbolisch-initiatischer Werkbund und Schule der Lebenskunst.
- Freimaurerei ist nicht politische Gruppierung, Interessenverband, Kirche, Religion oder Religionsersatz, Geheimbund oder Verschwörung.
III.
Obwohl mir diese Definitionen nach wie vor sehr geeignet scheinen, um nach Innen und Außen ein klares Bild der Freimaurerei zu entwickeln, möchte ich sie jetzt nicht im Einzelnen wiederholen, sondern einen anderen Ansatz wählen, der sich an das zuvor zur „Identität“ ausgeführte anschließt. Dabei interessiert mich vor allem, was aus der Sicht eines an Freimaurerei interessierten Mannes das Besondere an der Freimaurerei, das „Alleinstellungsmerkmal“ ist, das ihn veranlassen könnte, vom Interessenten zum Suchenden und schließlich zum Bruder zu werden.
Ich bin davon überzeugt, dass drei Elemente unverzichtbar sind, aber – wo vorhanden – auch mit Gewissheit zum Erfolg führen:
- Die überzeugende Persönlichkeit von Freimaurern, die der Suchende gern zu Freunden haben möchte;
- die Qualität einer Logengruppe, zu der – weil sie Heimat bietet – der Suchende gern gehören würde;
- die Originalität des „Konzepts Freimaurerei“, die den Suchenden sagen lässt: „Das überzeugt mich, denn es vermittelt meinem Leben Sinn“.
Auch hier ist wieder wichtig, auf die Säulen „Freundschaft“ und „ethische Diskurse“ zu verweisen, nicht zuletzt aber ist erforderlich, sich mit dem Ritual zu beschäftigen, seine Funktionen zu verstehen und sich Möglichkeiten anzueignen, über das Ritual auch mit (noch) Außenstehenden zu sprechen und dennoch das Arkanum zu bewahren.
Im Zentrum der Freimaurerei steht das Ritual, gewiss. Doch Wirkung geht nur dann von ihm aus, wenn zunächst erst einmal sehr gründlich das Heraustreten aus dem Alltag, die Fähigkeit zur Reflexion und die Bereitschaft zur Kontemplation geübt und eingeübt werden.
Das „Öffnen der Loge“ bedeutet, einen abgegrenzten, symbolischen Raum zu schaffen und eine besondere, symbolische Zeit einzuleiten, doch vor allem geht es darum, das Bewusstsein der Brüder zu öffnen für das, was im Tempel geschieht:
- die Vermittlung von Ordnungsvorstellungen („in Ordnung“, meine Brüder!)
- die Teilhabe an der Initiation der Mitbrüder sowie
- den Anstoß zu eigener Entwicklung und Veränderung.
Vermittlung von Ordnungsvorstellungen
Das Ritual soll eine dreifache Einordnung des Freimaurers bewirken und veranschaulichen:
- in die Moralische Ordnung: Setze Werte um, erkenne Dich selbst, mach Dir und anderen nichts vor. Formel: „Schaue in Dich!“ Spezielles Symbol: das Winkelmaß;
- in die Soziale Ordnung: Mensch und Gesellschaft, Ich und Du gehören zusammen, der „Tempelbau der Humanität“ gelingt nur Menschen, die durch Menschenliebe miteinander verbunden sind. Formel: „Schaue um Dich!“ Spezielles Symbol: Zirkel;
- in die Kosmologische Ordnung: Die Loge ist Abbild und Metapher des Universums, die „Arbeit“ des Freimaurers dient einem höheren Sinn. Formel: „Schaue über Dich!“ Spezielle Symbole für den transzendenten Bezug des Menschen: Buch des (heiligen) Gesetzes und „Großer Baumeister aller Welten“.
Anstoß zu Entwicklung und Veränderung
Die Rituale der Freimaurer dienen der Einübung in eine wertbezogene Lebenspraxis. Sie sollen durch die symbolische Arbeit am „Rauen Stein“ eine Veränderung des mitgebrachten Habitus bewirken.
Dabei symbolisiert die Initiation die für Selbsterkenntnis, Mitmenschlichkeit und ethisches Handeln erforderliche Veränderung des Menschen.
Insoweit die Rituale der Freimaurer der „Einübung in ein das Einzeldasein transzendierendes Sinngefüge“ (Th. Luckmann) dienen, haben sie als Bestandteil der Sozialisierung und „Personwerdung“ des Menschen einen religiösen Charakter, auch wenn Freimaurerei weder Religion noch Kirche ist.
Immer kommt es darauf an, Freimaurerei („Königliche Kunst“) als „Gesamtkunstwerk“ zu verstehen, zu verinnerlichen und nach außen darzustellen. Gemeinschaft, Ethik und Ritual gehören untrennbar zusammen:
Freimaurerei ist eine Lebenskunst, die menschliches Miteinander und ethische Lebensorientierung durch Symbole und rituelle Handlungen in der Gemeinschaft der Loge darstellbar, erlebbar und erlernbar macht.
IV.
Doch so wichtig wohl überlegte Antworten auf konzeptionelle Fragen auch sind: Es muss immer wieder betont werden, dass für eine weitere gedeihliche Entwicklung der Freimaurerei das stete Bemühen um eine hohe Qualität der freimaurerischen Gruppen mindestens so wichtig ist wie die Klarheit der Inhalte. Stets müssen wir davon ausgehen, dass die geistigen Inhalte der Freimaurerei und das rituelle Brauchtum in Überzeugung und Wirkung ganz entscheidend davon abhängen, wie sie von den Freimaurern in den Logen praktiziert werden. Wir müssen weiter feststellen, dass zumindest ein Teil dessen, was Freimaurerei ausmacht (Geselligkeit, ethische Überzeugungen) auch in anderen Gruppen zu finden ist, das heißt, man sucht es bei uns nur dann, wenn wir in der Praxis der freimaurerischen Gruppen besonders überzeugend sind. Wir sollten darüber hinaus anerkennen, dass selbst das, was spezifisch freimaurerisch ist (vor allem das Ritual), nur überzeugt, wenn es von Freiheit im Zugang und hoher menschlicher Qualität begleitet ist. Schließlich muss beachtet werden, dass die Freimaurerei heutzutage in einer schwierigen Konkurrenz zu einer Fülle von (hochwertigen und weniger hochwertigen, aber dennoch attraktiven) Freizeitangeboten steht, in der wir wiederum nur durch Qualität und Originalität bestehen können.
All das bedeutet, dass wir als Logen und Großlogen keineswegs durch „Freimaurerei an sich“ ausstrahlungskräftig sind, sondern nur durch eine glaubwürdige Umsetzung von Freimaurerei, wozu nicht zuletzt eine überzeugende freimaurerische Individual- und Gruppenidentität gehört. Deshalb müssen wir auf vielen Ebenen arbeiten: an der Qualität unserer Konzepte, an der Qualität der freimaurerischen Gruppen und immer wieder an unserer ganz persönlichen freimaurerischen Integrität und Überzeugungskraft.