Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (AFuAMvD)

Gesellschaft der Angst, oder: Die Vertreibung aus dem Paradies

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Foto: © alphaspirit / Adobe Stock

Zorn und sogar Hass werden immer mehr, insbesondere im Internet, zur Form der politischen Auseinandersetzung. Wir als Freimaurer sind in besonderer Weise gefordert, hier Stellung zu beziehen.

Hasskommentare im Internet, Beschimpfungen und Gewaltandrohungen gegen Migranten, gegen Politiker und Journalisten, in Einzelfällen auch physische Gewalt bis hin zum Mord sind Bestandteil der politischen Auseinandersetzung geworden. Es ist Zeit, sich zu fragen – und hier sind gerade wir als Freimaurer gefordert -: woran liegt es?

Wir leben in einer Zeit des Wandels. Globalisierung mit all ihren Folgen ist nur eines der Stichworte hierfür. Der Fortschrittsglaube nach dem Zweiten Weltkrieg in der Phase des Wirtschaftswunders ist spätestens seit dem Ende der 1980er Jahre gebrochen. Die Gewissheit, im Laufe des Lebens den erreichten sozialen und finanziellen Stand zumindest zu halten, wenn nicht zu verbessern, ist verloren gegangen. Wir stellen eine Veränderung der Gesellschaft fest. Die Schere zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft ist größer und auch offensichtlicher geworden. Eine vergleichsweise kleine Schicht profitiert von diesen Veränderungen und erlebt einen sozialen und finanziellen Aufstieg. Für weite Schichten ist das nicht möglich, sie kämpfen, um den einmal erreichten Stand zu halten oder die Veränderungen bedeuten für sie einen sozialen Abstieg. Allerdings bedeutet Abstieg nicht den Fall ins Elend. Auch die Verlierer bei diesen Veränderungen werden durch soziale Systeme aufgefangen.

Auffallend ist, dass die Wenigsten, die solche Befürchtungen und Ängste äußern, tatsächlich der Gefahr eines Abstiegs ausgesetzt sind. Unzweifelhaft ist jedoch, dass die Gesellschaft – und zwar in allen industrialisierten Ländern – einem starken sozialen Wandel unterzogen ist. Jeder soziale Wandel bedeutet die Vertreibung aus einem Paradies, einem Ort, der im Rückblick als ein Hort von Frieden, Ruhe und Ordnung und Wohlstand gesehen wird. Man kann hier von einem nostalgischen Nationalismus sprechen.

Sicherlich sind die Zeiten der Sorglosigkeit vorbei. Die Politik kann kein sorgenfreies Leben mehr versprechen. Dabei ist die Angst vor der Zukunft keine rein deutsche Erscheinung, auch wenn man im Ausland gerne von der „German Angst“ spricht. Nach Schätzungen tragen mehr als 50 Prozent der Deutschen chronische Ängste mit sich herum. Die gleichen Erscheinungen sind in allen europäischen Ländern und auch in den USA festzustellen. Viele erleben oder empfinden die Globalisierung als kollektiven Kontrollverlust. Wir stellen einen gefühlten Verlust der Zukunftsperspektive fest. Der Glaube an den Fortschritt weicht der Angst vor dem Abstieg. Die politische Linke redet vom Abstieg, die Rechte vom Niedergang, die Mitte schweigt eher. Das bedeutet aber nicht, dass die Mitte keine Angst empfindet. Das Gefühl, dass alles, was vor kurzem noch sicher erschien, ins Rutschen gekommen ist, geht weit über die Vertreter der politischen Extreme hinaus. Das Vertrauen in eine bessere Zukunft ist verloren. Ängstlichkeit und Resignation bei den einen, Misstrauen und Zorn bei den anderen sind die Folge. Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ hat wieder einen Platz in der politischen Diskussion.

Globalisierungsprozesse im Sinne von Zunahme weltweiter wirtschaftlicher Verflechtungen haben schon im ausgehenden Mittelalter stattgefunden. Damals bildeten sich globale Handels- und Hafenstädte (z.B. die Hanse). Kunst, Handwerk und Wissenschaft waren in der damals bekannten Welt weitgehend vernetzt. Was ist nun das Neue an der modernen Globalisierung? Was macht sie so bedrohlich? Der wichtigste Unterschied ist darin zu sehen, dass die Globalisierung der Frühmoderne kontinuierlich geschah und zur Herausbildung von souveränen Nationalstaaten im Rahmen einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft beigetragen hat. Die 1989 eingeleitete Globalisierung zeichnet sich dagegen durch ihren umwälzenden Charakter und die Gleichzeitigkeit des schnellen Wandels von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft aus.

Die Angst vor dem Kontrollverlust über das eigene Leben führt verbreitet zur Sehnsucht nach Geborgenheit und Gemeinschaft. Auffallend ist, dass die Globalisierungsgegner und Angstbürger nicht nur zu den unteren sozialen Schichten gehören, die tatsächlich abstiegsgefährdet sind. Diese Empfindung geht bis tief in die Mittelschicht in allen sozioökonomischen Situationen hinein.

Die alltägliche Besorgtheit verdichtet sich zur Sorge. Aus der Sorge wird schließlich Angst: Angst vor der Zukunft, vor dem Neuen, vor dem Fremden. Die soziale Deklassifizierung oder auch nur die Angst hiervor und die damit verbundenen Kränkungen können ein persönlichkeitsänderndes Potential entfalten. Häufig ist es auch die Angst vor einem Verlust sozialer Beziehungen, die Angst vor der Einsamkeit. Der Betroffene steckt häufig in seinen Emotionen fest, weil er der Situation nicht entfliehen kann und dauerhaft ein Gefühl der Unterlegenheit hat. Die persönliche Niederlage wird als unverschuldetes und ungerechtes Schicksal empfunden. Die negative Emotion entwickelt dann häufig ein Eigenleben, es entstehen Gefühle wie Ressentiment oder Zorn bis hin zum Hass. Dies kann durchaus Auswirkungen auf das Persönlichkeitsbild haben und zu politischen Emotionen und Auffassungen heranwachsen. Die empfundene Vereinsamung ist natürlich besonders empfänglich für angebotene Gemeinschaften und kollektive Identitäten.

Ressentiment bezeichnet hierbei einen heimlichen Groll, der entsteht, wenn mächtige Wünsche dauerhaft unerfüllt bleiben. Dies ist eine Art Selbstvergiftung. Ohnmächtig zur Rache am vermeintlichen Verursacher, drückt sich die Aggression im Ressentiment aus. Zum Ressentiment trägt ein starkes Gefühl bei, betrogen worden zu sein. Der Wert der eigenen Person, die eigene harte Arbeit werde nicht ausreichend gewürdigt. Deshalb könne man den Niedergang nicht aufhalten. Anderen Gruppen hingegen (z.B. Migranten, Homosexuellen) werde alles nachgeworfen. Sie erhielten alle Leistungen, die einem „normalen Bürger“ vorenthalten würden und ziehen so sozial und wirtschaftlich an diesem vorbei. Hinsichtlich der Bewältigung von Niederlagen erfüllt das insoweit das Kriterium eines Abwehrmechanismus. Letztlich geht es hier um Neid. Warum erhalten die alles, was mir vorenthalten wird? Aus diesem Neid wird Verachtung, aus der Verachtung kann Hass werden. Unterstützt wird diese Entwicklung durch den Kontakt zu Gleichgesinnten. Sie bestätigen die eigenen Gefühle und verleihen ein Gefühl der Stärke. Angst ist ansteckend. Ressentiments sind insoweit eben auch kollektivstiftende Emotionen. Sie helfen, die individuelle Isolation in einer Wir-Erfahrung zu überwinden. Hinzu kommt, dass das Verbreiten von Angst Aufmerksamkeit sichert.

Es besteht kein Zutrauen mehr in die eigene oder auch die kollektive Zukunft. Die Zuversicht in die Leistungsfähigkeit der bestehenden politischen Ordnung ist entfallen. Deshalb greift man sie auch vehement an, verbunden mit dem Aufruf zur Umkehr. Die Vergangenheit wird als Vorbild und Orientierungsmaske dargestellt. Ob der behauptete Verlust nationaler Handlungsmöglichkeiten in eine indifferenzierte Kapitalismuskritik oder einen lamentierten Verlust eigener Identität (fremd im eigenen Land) mündet, macht keinen großen Unterschied. Wobei darauf hinzuweisen ist, dass die Identifizierung von Kapitalismus mit einer angeblichen jüdischen Finanzelite eine lange, unselige Tradition hat und einen der Grundpfeiler des europäischen Antisemitismus darstellt.

Die weitere Folge kann dann der Aufruf zum realen Widerstand gegen die politischen und wirtschaftlichen Eliten und das System sein. Im Kollektiv geäußert, wirkt er besonders bedrohlich. Gleichzeitig bietet das Kollektiv dem Drohenden einen gewissen Schutz in der Anonymität der Masse, was durchaus zu größerer Enthemmung führen kann.

Wogegen richtet sich der Hass? Gegen die etablierte Politik, gegen Politiker als Personen und Parteien, letztlich gegen das bestehende politische System; gegen die Kapitalisten, gegen alle, denen es besser geht, die die sogenannte Großfinanz, die häufig mit „den Juden“ gleichgesetzt wird, demzufolge generell gegen Juden in unserer Gesellschaft; gegen alles, was anders ist: Ausländer, Homosexuelle (letztlich alle, die nicht heterosexuell sind), Migranten, moderne Kunst.

Bemerkenswert ist jedoch, dass die meisten verfügbaren Daten die Krisenszenarien des Abstiegs oder Niedergangs nicht bestätigen. Dies gilt jedenfalls, soweit sie sich auf ein Land in seiner Gesamtheit beziehen, was natürlich Einzelfälle des Abstiegs nicht ausschließt. Bezogen auf die Gesamtheit besteht also ein Widerspruch zwischen vorherrschender Stimmung und tatsächlicher Lage. Auffallend ist, dass auch die meisten als Einzelpersonen befragten ihre Situation eher als positiv empfinden.

Natürlich gibt es Branchen, deren Arbeitsplätze ins Ausland verlegt werden oder der Digitalisierung zum Opfer fallen. Das kann zwar eine gespaltene Stimmungslage erklären, nicht aber den vorherrschenden negativen Grundton. Was wir brauchen, ist ein mentaler und politischer Neuanfang. Dies kann nur durch Reformmaßnahmen geschehen. Allerdings brauchen Reformen Zeit. Die Angst- und Wutbürger behaupten, diese Zeit stehe nicht mehr zur Verfügung. Zur Abwendung einer Katastrophe müsse sofort gehandelt und unmittelbar wirkende Maßnahmen ergriffen werden. In der Ablehnung des bestehenden demokratischen Systems wird dies dann häufig mit dem Ruf nach dem „starken Mann“ verknüpft. Derartige Szenarien entwerfen das Bild des politischen Führers, der weiß und umsetzt, was das Volk zu seiner Rettung bedarf. Gleichzeitig werden vorliegende Reformvorschläge oder eingeleitete Reformmaßnahmen mit Hohn und Spott überzogen. Die Anwürfe werden zunehmend persönlich. Es ist häufig eine Art Eskalationsschema festzustellen: Was als Kritik an Politik und Politikern beginnt, steigert sich zum Vorwurf der moralischen Verkommenheit und Korruption.

Was hat das alles mit der Freimaurerei zu tun?

Wir sind gefordert, meine Brüder! Wir müssen der unbegründeten Angst und insbesondere der Aggression entgegentreten. Auf der Ebene der Gesamtgesellschaft kann dies eigentlich nur durch Bildung und Vermittlung von Wissen erfolgen. Wenn wir als Freimaurer uns der Tradition der Aufklärung und der Toleranz und Menschenliebe verpflichtet fühlen, dürfen wir uns solchen irrationalen Ängsten und Vorurteilen gegenüber nicht tolerant zeigen. Auch wenn Vertreter dieser Positionen möglicherweise demokratisch legitim in politische Positionen gewählt werden, bedeutet dies nicht, dass wir uns dem anschließen müssen oder es auch nur zu respektieren haben. Wir müssen den Mund aufmachen gegenüber solchen Auffassungen, die den freimaurerischen Idealen zutiefst widersprechen. Ich wiederhole mich: „Steht auf meine Brüder und wehrt Euch!“.

Gerade auch soweit die Freimaurerei unmittelbar betroffen ist, können Ansichten, die eigentlich auf die Müllkippe der deutschen Geschichte gehören, nicht achselzuckend unter Hinweis auf freimaurerische Toleranz hingenommen werden. Populistische Weltbilder, Intoleranz, Hass und Fremdenfeindlichkeit sind keine Ausdrucksformen, die in einer Freimaurerloge Platz haben. Sie sind mit unserem Weltbild nicht kompatibel. Hier ist jede Loge gefordert. Wir dürfen nicht schweigen, sondern müssen darüber reden. Insbesondere dürfen wir es auch nicht dulden!