Corona-Zeit ist leider keine Zeit lebendiger Ritualpraxis, und wir empfinden das anhaltende Ausgeschlossensein aus unseren vertrauten spirituellen Erfahrungsräumen als schwerwiegende Beeinträchtigung unserer freimaurerischen Existenz. Immerhin: Wir können über unsere Rituale und die Möglichkeiten ihrer stimmigen Umsetzung nachdenken und uns vorbereiten auf eine bessere Zeit, die hoffentlich bald kommt und in der wir die sozialen, die ethisch-moralischen und die rituellen Seiten unseres Gesamtkunstwerks Freimaurerei wieder voll erleben können.
Im Sinne einer solchen Vorbereitung habe ich mir wieder einmal Gedanken über das Verhältnis von Freimaurerei und Musik gemacht, und ich möchte mit sechs Anmerkungen versuchen, mich dem Thema Musik im Kontext der Freimaurerei im Allgemein und im Kontext des freimaurerischen Rituals im Besonderen anzunähern. Ich tue dies als praktizierender und reflektierender Freimaurer, der die Musik liebt und sie in der Freimaurerei für unverzichtbar hält, darüber hinaus aber über keine ausgeprägten musikalischen Qualitäten verfügt.
Erstens: Freimaurerei als Gesamtkunstwerk
Freimaurerei ist zumindest in zweierlei Hinsicht ein aus komplementären Elementen bestehendes „Gesamtkunstwerk“.
Einerseits verbinden sich in ihr soziale Elemente (Freundschaft und Geselligkeit), diskursive Elemente (Nachdenken und Diskurs über Ethik und Moral) sowie rituelle Elemente (Ritual als spiritueller Erlebnis-, Erfahrungs- und Einübungsraum). Freimaurerei gelingt nur da, wo alle diese Elemente miteinander verbunden in hoher Qualität praktiziert werden. Der Hinweis auf „praktiziert“ ist wichtig, denn Freimaurerei ist – obwohl sie klare Gedanken erfordert – nicht Theorie, sondern eine Form von Praxis, die wiederum auf die Befähigung des Freimaurers zur Praxis, nämlich die Praxis eines gelingenden Lebens in lebendiger Gemeinschaft zurückwirkt.
Andererseits verbinden sich auch im Ritual verschiedene, aufeinander angewiesene und aufeinander verweisende Elemente: Tempelraum, Innenarchitektur, Bildgestaltung, strukturierte Texte, Sprechakte (oft performatives Sprechen), Bewegungen (Körperinszenierungen) und Musik. Auch das Ritual gelingt nur, wenn alle seine Elemente ohne Brüche aufeinander abgestimmt und mit hoher Qualität in der rituellen Praxis der Loge präsent sind, das heißt, wenn sie den (in der deutschen Freimaurerei bisher freilich sträflich vernachlässigten und dringend zu erarbeitenden) Kriterien einer praktischen Ritualästhetik entsprechen.
Zweitens: Die wechselseitige Unterstützung von Musik und Ritual
Die Sprache der Rituale bringt nicht nur die moralischen Lehren der Freimaurer zum Ausdruck, sie folgt auch bestimmten Regeln des Sprechens und des dramatischen Ablaufs und ist durch einen Sprachduktus und Sprachrhythmus bestimmt, der das Ritual wiederum in die Nähe zur Musik rückt. Sicherlich ginge es zu weit, Nietzsche paraphrasierend von einer „Geburt der Freimaurerei aus dem Geiste der Musik“ zu sprechen. Doch es gibt in den vielfältigen Erscheinungsformen des freimaurerischen Brauchtums keine Rituale – jedenfalls keine gelungenen Rituale – ohne Musikalität, insbesondere ohne Klang und Rhythmus, Klänge und Rhythmen als archaischer Orientierungs- und Ordnungsformen des Menschen. „Rhythm is it“, diese Feststellung Sir Simon Rattle’s, die ja auch zum Titel eines faszinierenden Films über die Aufführung von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ mit Berliner Schülern und den Berliner Philharmonikern geworden ist, bringt eine wichtige anthropologische Grundeinsicht treffend auf den Punkt. Auch die Ritualtheorie, die sich in der jüngeren Zeit kräftig entwickelt hat, geht regelmäßig von einer „wechselseitigen Unterstützung von Musik und Ritual“ aus.
Drittens: Historische Perspektiven
Zur Einordnung der Musik in die Freimaurerei mag ein kurzer Blick auf die Geschichte des Bundes und seiner Ritualistik hilfreich sein:
Früh schon wurde in den Logen musiziert und gesungen, zuerst beim heiteren Beisammensein nach der rituellen Arbeit, später – vor allem seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – auch im Ritual. Die Lieder bei der Tafel waren zunächst oft freimaurerisch adaptierte Volkslieder, teilweise sogar ausgesprochene Gassenhauer. Mit dem Aufkommen der Tafellogen-Rituale, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich entstanden und bald nach Deutschland übernommen wurden, wurde die Musik verfeinert. Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein waren die Tafellogen von maurerischer Musik – Instrumentalkunst, eigens für Solo-Stimmen komponierte Freimaurerlieder und Chorgesang der Logenbrüder – begleitet, weshalb die Tafelmusik oft sehr reichhaltig war.
Doch die Freimaurer waren nicht nur heiter und gesellig, sie waren auch ernsthaft und besinnlich, und dieser Wesenszug hat sich gleichfalls in der freimaurerischen Musik niedergeschlagen. Zunächst wurden Kirchenliedern oder Huldigungs-Hymnen freimaurerische Texte unterlegt. Die englischen Brüder Freimaurer sangen beispielsweise nach der Melodie von „God save the King“ den Text „Hail masonry devine“. Nachdem die Musik zu einem festen Bestandteil auch der freimaurerischen Rituale geworden war, stieg die Zahl der Kompositionen für den Logengebrauch stark an. Ihren Gipfel erreichte die Freimaurerische Musik zweifellos durch Mozart, der neben der Zauberflöte und dem instrumentalen Höhepunkt seiner „Maurerischen Trauermusik“ eine Reihe von Einzelgesängen und Kantaten für seine Wiener Loge komponierte.
Viertens: Probleme der Gegenwart
Weniger gut steht es um die freimaurerische Musik in der Gegenwart. Dies hängt einmal damit zusammen, dass die Zahl qualifizierter Musiker – Sänger wie Instrumentalisten – in den Logen stark zurückgegangen ist. Musik von Tonträgern ist oft die unvermeidliche Alternative. Ritualmusik von Tonträgern müsste auch nicht generell unzureichend ausfallen, denn die Wiedergabequalität hat sich stark verbessert. Leider ist jedoch – von lobenswerten Ausnahmen (!) abgesehen – die Musikkultur der deutschen Logen unterentwickelt, die Vielfalt des Möglichen überfordert nicht selten die Fähigkeit zur sinnvollen Auswahl von Musik für rituelle Zwecke, und die Leistungen der Ritualkommissionen auf diesem Gebiet können nicht befriedigen, jedenfalls im Bereich der GL AFuAM. Es ist dringend erforderlich, die hier vorliegenden Defizite konzeptionell und praktisch aufzuarbeiten. Warum gibt es – bei so vielen Ämtern – eigentlich keinen Musikmeister der Großloge?
Fünftens: Funktionen der Musik in der Freimaurerei
Im Einzelnen lassen sich die folgenden Funktionen der Musik in der Loge allgemein und speziell im Ritual unterscheiden:
Zunächst ist Musik ein Element der Geselligkeit und der Kultur in der Loge. Musik ging und geht dabei über das Ritual im engeren Sinne hinaus. Sie dient der (gehobenen, anspruchsvollen) Unterhaltung und der freimaurerischen Festlichkeit auch und insbesondere im außerrituellen Rahmen. Gerade viele größere und kleinere Werke der „klassischen“ Freimaurer-Komponisten – begonnen mit Mozart – sind keine Ritualmusiken im engeren Sinne (und sind auch als solche nicht geeignet).
Fragen wir nach eigentlicher Ritualmusik, d. h. Musik, die im Ritual verwendet wird, so lassen sich wiederum verschiedene Funktionen der Musik erkennen:
- Musik trägt zur „Rahmung“ (Framing) des Rituals bei, so etwa beim Einzug und Auszug der Schwestern und Brüder.
- Musik unterstreicht die Bedeutung von Textpassagen und Körperinszenierungen (etwa Hinweise in den Ritualbüchern: „An dieser Stelle laute Musik“).
- Musik erlaubt, in dem Pausen akzentuiert werden, ein Nachfühlen und Reflektieren von Textpassagen.
- Musik befördert das „Fließen“ (Flow) des Rituals und trägt dazu bei, dass das Ritual im Zeitablauf als Einheit empfunden wird.
- Vor allem aber vermittelt Musik Stimmung und schafft eine spirituelle Atmosphäre.
Auf Zweierlei ist jedoch strikt zu achten:
Einmal muss sich die gewählte Musik dem Ritual ein-, ja unterordnen. Musik im Ritual darf das Ritual nicht in ein Gesprächskonzert transformieren. Längere Passagen oder auch Bruchstücke von Sinfonien etwa entfalten oft ein Eigengewicht, das das Ritual gleichsam beiseiteschiebt und den aufgezeigten Funktionen einer gelungenen Ritualmusik nicht entspricht. Die gewählten Musikstücke – ob live, ob Konserve – müssen kurz und in sich abgeschlossen sein. Die von ihnen ausgehenden Impulse haben der Funktion zu entsprechen, die sie im Ritual innehaben sollen. Musik darf weder dominant sein noch Stimmungen hervorrufen, die der Emotionalität des Rituals nicht entsprechen.
Zum anderen muss die Musik, vor allem, wenn sie mit Text verbunden, d.h. Gesang ist, der konkreten rituellen Situation entsprechen, in der sie zum Einsatz kommt. Die Zauberflöten-Arie „In diesen heiligen Hallen“ etwa dürfte eigentlich an der Stelle, wo sie meist ertönt, beim Eintritt des Suchenden nämlich, nicht erklingen. Denn ihr Text – von den Autoren der Oper in eine zwar emotional aufgeladenen, doch eher familiären Gesprächssituation zwischen Sarastro und Pamina platziert – soll die von der Mutter zum Mord an Sarastro bestimmte Tochter beschwichtigen und taugt eigentlich nicht als Einleitung einer ernsten, ja bedrohlichen rituellen Prüfung, wozu die Arie im deutschem Logenbrauch regelmäßig verwendet wird. Mozart und Schikaneder wussten genau, welche Musik mit welchem Text zu Beginn des Initiationsprozesses stimmig ist: der Gesang der „geharnischten Männer“ mit den Worten:
“Der, welcher wandert diese Straße voll Beschwerden,
Wird rein durch Feuer, Wasser, Luft und Erden;
Wenn er des Todes Schrecken überwinden kann,
Schwingt er sich aus der Erde himmelan“.
Um den aufgezeigten Defiziten zu begegnen, wäre es wünschenswert, ja erforderlich, sich eingehend mit den zuvor erwähnten Kriterien einer praktischen Ästhetik der Freimaurerei zu beschäftigen und sich auch der freimaurerischen Musik mit grundsätzlichen Überlegungen und Vorschlägen für die Ritualpraxis der Logen zuzuwenden. Dabei wäre zunächst und vor allem der musikalische Bestand zu prüfen, den uns unsere musikalischen Meister an dezidierten Ritualmusiken hinterlassen haben. Aber auch im Vorrat der nicht primär für Freimaurerrituale komponierten Musik der masonischen Klassiker könnten wir fündig werden. Ich schätze z.B. Mozarts Kammermusik für Holzbläser (Klarinette und Bassetthorn) oder die „Harmonie-Fassungen“ seiner Opern und habe sie immer wieder gern eingesetzt. Neuere Ritualmusiken wären auf ihre Stimmigkeit zu prüfen, etwa die „Pyrmonter-Ritualmusik“ von Marc Roland (bei der ich selbst freilich gewisse Vorbehalte habe, weil mir ihre Feierlichkeit nicht frei von depressiven Zügen scheint). Oft geeignet sind Stücke der Barock-Musik, aber man muss sie richtig auswählen. Emotional passend und zudem kurz und in sich abgeschlossen sind für mich Teile der von euro-asiatischer Kultur inspirierten Klaviermusik von Georgi Iwanowitsch Gjurdschijew und Thomas de Hartmann.
Sechstens: Musik, Ritual, Stimmung
Zum Schluss nehme ich noch einmal den Gesichtspunkt spirituelle Atmosphäre und Stimmung auf, der für mich ganz zentral für das freimaurerische Ritual, insbesondere für die Emotionalität des Ritualerlebens ist:
Stimmung ist – insbesondere Martin Heidegger hat nachdrücklich darauf verwiesen – eine sehr ursprüngliche Seinsart des Menschen. Die emotionale Befindlichkeit des Menschen, seine Stimmung eben, erschließt die Welt noch vor dem theoretischen Verstehen. Stimmungen eröffnen Sinnzusammenhänge und vermitteln Impulse zum Handeln. Insbesondere der Tübinger Philosoph und Pädagoge von Otto Friedrich Bollnow hat dabei die Bedeutung gehobener Stimmungen wie Glück, Freude, „Festigkeit des eignen Selbst“, Überzeugungsgewissheit, Verbundenheit mit anderen Menschen, Getragensein, Geborgenheit und Vertrauen für die psychische, geistige und moralische Entwicklung des Menschen eindrucksvoll hervorgehoben, vor allem in seiner durchaus für die Freimaurerei wieder zu entdeckenden Schrift „Das Wesen der Stimmungen“.
Das Erzeugen solch guter, gehobener Stimmungen ist nun auch ein ganz zentrales inneres Form- und Gestaltungsprinzip der Freimaurerei, insbesondere des freimaurerischen Rituals, wobei die freimaurerische Musik wiederum in besonderem Maße beteiligt ist. Musik gehört zur Freimaurerei – in Ritual und Geselligkeit – und trägt sehr wesentlich dazu bei, dass die „Königliche Kunst“ in ihrer Gesamtheit in der Lage ist, neue Gemütslagen zu entdecken und seelische Bereiche konstruktiv zu erweitern. Musik generiert eine festlich gehobene, eine – dennoch! – optimistische Stimmung, eine Gefühlslage, die positive Empfindungen mit Ordnung und Maß verbindet, und die hilft, jene „gesellige Vernunft“ zu bewahren, die seit den Tagen der Aufklärung immer wieder kennzeichnend für die Kultur der Freimaurerei gewesen ist. Das Herstellen von Stimmungen durch den Zusammenklang von Worten, symbolischen Handlungen, Bildern und Musik ist wohl auch das wichtigste pädagogische Medium der Freimaurerei in der Gegenwart.
Freimaurerei bedeutet auch heute sehr wesentlich die Einladung, sich besser zu fühlen, um die Möglichkeit zu erfahren, besser zu werden.
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