Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (AFuAMvD)

Schwierigkeiten mit dem “Tempel der Humanität”

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Foto: © spaxlax / Adobe Stock

Schwierigkeiten mit dem “Tempel der Humanität”

Von Thomas Harting

Der Freimaurerlehrling arbeitet am rauen Stein. Dabei soll er in sich gehen und die Kanten der Unvollkommenheit abschlagen, damit aus dem rauen ein kubischer Stein wird, mit dem Ziel, ihn in den Tempel der Humanität einzufügen. Da aber die einzelnen Steine ungleichmäßig sind – Freimaurer sind ja schließlich Individualisten mit eigener Meinung – soll die Kelle die Risse glätten – und zwar mit dem Mörtel der Toleranz, Menschlichkeit und Liebe.

Freimaurerei als Graswurzelbewegung

Wer von einem „Tempelbau der Humanität“ spricht, der muss das Ziel haben, ein friedliches Miteinander der Menschheit zu verwirklichen. Wenn am Ende des Rituals gesagt wird, Freimaurer sollen niemals der Not und dem Elend den Rücken kehren und sollen sich als Freimaurer bewähren, dann ist damit gemeint, dass sie die Gesellschaft, in der sie leben, positiv mitgestalten sollen. Freimaurer wollen die Gesellschaft, in der sie leben, verändern – hin zu einer Gesellschaft, in der humanitäre Ideale hochgehalten und tatsächlich gelebt (nicht nur in Sonntagsreden gepriesen) werden: Menschenliebe und Toleranz. Die Veränderung soll dabei als „Graswurzelbewegung“ erfolgen, das heißt, als eine allmähliche Veränderung von der Basis her. Freimaurer sollen dabei die genannten Tugenden vorleben, ein Beispiel sein, dadurch die Mitmenschen beeindrucken und positiv beeinflussen. Es geht also nicht um Politik, sondern um praktische Ethik, die jeden Tag am Nächsten gelebt wird. Ob man diese Ethik religiös-theologisch begründet oder den kantischen Kategorischen Imperativ bemüht, ist dabei nebensächlich. Der vom Freimaurer Adam Weishaupt gegründete Illuminatenorden, dem auch namhafte Brüder wie Goethe und Knigge angehörten, schoss sicherlich am Ziel vorbei, obwohl auch er den Menschen sittlich verbessern wollte: Ob das Ziel, die Herrschaft des Menschen über andere Menschen überflüssig zu machen, tatsächlich gewollt war, sei dahingestellt. Seine Methode, den Staat zu unterwandern und die staatliche Führung auszuwechseln, war bestimmt nicht freimaurerisch.

Das Denken bestimmt das Handeln

Freimaurer dürfen natürlich in ihrem profanen Leben politisch aktiv sein, solange sie sich für Überzeugungen einsetzen, die nicht gegen die freimaurerischen Tugenden verstoßen. Doch welche Ansichten verstoßen gegen Menschenliebe und Toleranz?
Menschenliebe – Liebe zu den Menschen – ist offensichtlich eng mit dem Gedanken der Humanität verbunden. Diese Liebe ist natürlich von einer anderen Qualität als die Liebe zur Partnerin, zu Kindern, Freunden und konkreten Brüdern in der Loge, denen ich mich auch freundschaftlich verbunden fühle. Den Menschen an sich oder gar die ganze Menschheit zu lieben – da stößt man an seine Grenzen. Vielleicht hilft es weiter, wenn man den Kategorischen Imperativ leicht verändert: „Handle (Zusatz: und denke an das allgemeine Wohl der Menschheit) nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Wenn ich wollen könnte, dass der Grundsatz meines Handelns ein allgemeines Gesetz wird, weil er ein friedliches Miteinander garantiert, dann sollte ich mein Denken, meine politischen Ansichten danach ausrichten. Denn aus Worten werden Taten, aus politischen Zielen können konkrete gesellschaftliche, vielleicht auch staatliche Ziele werden. Denken und Handeln sind also verwandt, sie sind nicht losgelöst voneinander denkbar bzw. vorstellbar. Und hier schließt sich der Kreis zum humanitären Gedanken.

Doch was bedeutet dies konkret?

Ausschluss extremer politischer Ansichten

Menschenliebe und das Ziel, den Tempel der Humanität zu bauen, bedeutet, alle politisch extremen Positionen abzulehnen. Wenn jemand fordert, dass Menschen mit hohem Einkommen mehr Steuern zahlen sollen, damit der Staat höhere Transferleistungen an Bedürftige austeilen kann, so kann man diese Meinung teilen oder auch nicht. Es ist das Recht eines Jeden, dafür auf der Straße zu demonstrieren – allerdings gewaltlos. Autos anzuzünden, um seiner politischen Meinung mehr Nachdruck zu verleihen, ist nicht hinnehmbar. Genau so wenig ist es hinnehmbar, billigend den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen, indem ihnen der Zugang zu Ressourcen verweigert wird. Es ist auch nicht akzeptabel, Gruppierungen zu unterstützen, die gegen die freiheitliche Verfassung unseres Staates ankämpfen, weil sie ihn entweder nicht akzeptieren oder ihn für korrumpiert halten. Das sind Verstöße gegen humanistische Grundprinzipien wie die oben diskutierte Menschenliebe. Selbst wenn unsere demokratische Ordnung nicht perfekt ist, was sie auch gar nicht sein kann, da sie von Menschen gemacht ist, ist sie dennoch dem humanistischen Ideal näher, als es eine Diktatur jemals sein könnte.

Um nicht missverstanden zu werden:

Innerhalb der Loge sollen politische Themen außen vor bleiben – mit gutem Grund, denn gerade tagespolitische Themen können zu Streit und zu Zerwürfnissen führen. Welcher Partei ich meine Stimme gebe und warum, ist zunächst meine Privatsache und keine Angelegenheit einer Loge oder eines Bruders. Und dennoch wäre es naiv zu glauben, es gebe so etwas wie ein unpolitisches Verhalten unter Menschen.
Paradoxerweise ist es unter Menschen nicht möglich, unpolitisch zu sein. Dafür braucht man nicht einmal Aristoteles zu bemühen und darauf hinzuweisen, dass der Mensch ein „zoon politikon“ – ein soziales, politisches Wesen – ist. Wenn ich Ansichten höre, die gegen das humanistische Ideal verstoßen und schweige, so gebe ich dem Gedanken Raum, sich weiter zu entfalten. Wie oben dargestellt, werden aus Gedanken früher oder später Taten – nicht umsonst versuchen Diktaturen, unliebsame Gedanken auch mit Gewalt zu bekämpfen. Das heißt, wenn ich schweige, handle ich streng genommen politisch – denn ich widersetze mich nicht und ich verhindere mit meinem Schweigen, dass ein Verstoß gegen den humanistischen Gedanken als solcher benannt wird. Ich akzeptiere ihn förmlich durch mein Nichthandeln. Daher ist es nicht möglich, nicht politisch zu handeln. Auch Ignoranz ist somit politisch!

Auch das Schweigen ist politisch

Martin Niemöller, der deutsche Theologe und Angehörige der Bekennenden Kirche während der NS-Zeit, schreibt dazu seine berühmten Zeilen: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“
Er hatte geschwiegen – ob aus Angst oder aus Ignoranz spielt dabei keine Rolle. Am eigenen Leib aber musste er feststellen, dass sein Schweigen hochpolitisch war. Es ist also besser, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen.
Aber wie steht es mit der Toleranz? Wie oft hört man den Satz: „Das werde ich wohl noch mal sagen dürfen …“?

In meiner naiven Jugendzeit hielt ich mich für sehr tolerant: Als diskutiert wurde, ob es gleichgeschlechtliche Ehen geben dürfe, war ich dafür. Warum nicht. Ob mein Nachbar schwul oder meine Nachbarin lesbisch ist – mir war das egal. Heute weiß ich, dass dies nicht Toleranz ist, sondern Gleichgültigkeit. Markus Tiedemann, Professor für praktische Philosophie in Dresden, sagt dazu: „Ablehnung und Grenze sind notwendige Bestandteile des Toleranzbegriffs.“ Er führt sinngemäß weiter aus: Toleranz kommt von „erleiden, erdulden“. Um etwas tolerieren zu können, müssen wir es erst einmal schlecht finden. Wenn wir behaupten, immer alles tolerieren zu können, sind wir entweder nihilistisch oder zynisch.

Rainer Forst, Professor für politische Theorie und Philosophie in Frankfurt, geht noch näher darauf ein. Für ihn besteht Toleranz zunächst aus drei Komponenten:

Ablehnung – Tolerieren können wir nur, was wir als falsch oder schlecht empfinden, so Forst. Was wir befürworten, müssten wir ja gar nicht tolerieren. Weil Ablehnung ein essenzieller Punkt ist, kann Toleranz laut Forst auch weder vollständige Bejahung von etwas noch Gleichgültigkeit bedeuten.

Akzeptanz – Außerdem, so Forst weiter, müssen wir Gründe akzeptieren, aus denen wir etwas tolerieren sollten, obwohl wir es eigentlich ablehnen. Das Grundrecht der Religionsfreiheit könnte beispielsweise ein solcher Grund sein.

Zurückweisung – Zur Toleranz gehören schließlich auch ihre Grenzen, erklärt Forst. Die müssten stärker wiegen als die Akzeptanz-Gründe und daher objektiver sein. Ein möglicher Grund, etwas zurückzuweisen, statt es zu akzeptieren, könnte etwa die Verletzung von Menschenrechten sein.

Ich muss also meine Grenzen der Toleranz selber finden, so wie jeder Mensch sie finden muss. Für uns Freimaurer sollte dabei der Grundsatz gelten: Wer gegen das Gebot der Menschenliebe, wer gegen humanistische Ideale verstößt, verdient es nicht, von uns toleriert zu werden. Denn tolerieren wir menschenverachtende Positionen, machen wir uns mitschuldig, wenn irgendwann aus Gedanken konkrete Handlungen werden.

In diesem Sinn sei an das Zitat des US-amerikanisch-spanischen Philosophen George Santayana erinnert, das heute am Eingang des Blocks 4 der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Auschwitz zu lesen ist: „Wer die Geschichte nicht erinnert, ist verurteilt, sie neu zu durchleben.“

Wer kann das wollen?

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 3-2020 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.

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