
Rund um den Globus wurde live, emotional bis fassungslos berichtet. Die Notre-Dame in Paris stand am 15. April 2019 lichterloh in Flammen. Als die Feuersbrunst am nächsten Morgen endlich unter Kontrolle gebracht war, wurde auch das Ausmaß der Katastrophe deutlich.
Der Verlust von Unwiederbringlichem ist zwar schmerzhaft, doch angesichts der zuerst morosen und dann vielfältig medial angefachten Stimmung vergangener Tage lag in dem Erhaltengebliebenen auch ein gewisser Trost. Und: Es soll niemand zu Tode gekommen sein!
„Sie schwankt, aber geht nicht unter“ (Fluctuat nec mergitur), so der Wahlspruch auf dem Wappen von Paris. Treffender könnte man die Situation auf der Île de la Cité im 4. Pariser Arrondissement kaum beschreiben. Die Notre-Dame ist mehr als nur ein pittoreskes Sujet einer Postkarte. Sie ist neben dem Eiffelturm das Wahrzeichen von Paris und einer ganzen Nation. Nun ist eine Debatte darüber entbrannt, ob ein Wiederaufbau nach dem Original angestrebt werden soll oder gar eine Neuinterpretation. Möge Vernunft die Leitenden am Ende überzeugen. Es bleibt spannend.
Ein Bauwerk wie die Kathedrale in Paris prägt die Silhouette einer ganzen Stadt. Sie ist für gläubige und freigeistige Menschen gleichermaßen Symbol der „Ewigkeit“. Unweigerlich geht man davon aus, dass sie überdauert. Diesen Anspruch leiten wir aus unserer Gewohnheit im Umgang mit den baulichen Koordinaten ab. Steht ein solches Bauwerk von (inter-)nationaler Bedeutung plötzlich in Flammen, wird unser Selbstverständnis irritiert und Fragen in Bezug zum räumlich-zeitlichen Empfinden und zur Identität werden berührt. Im Laufe der Jahrhunderte stand Paris mehrfach im Mittelpunkt der Geschichte. Manches Mal stand damit auch die Kathedrale vor dem Verfall, dem Verkauf oder gar ihrer Zerstörung.
Ein Literat rettet die Kathedrale
Bevor Bomben im Zweiten Weltkrieg auf Paris niedergingen, wurden zumindest die alten Fenstermalereien vorsorglich gesichert. Diese Fürsorge genoss der Bau nicht immer. In der Aufklärung wurde das Buntglas weiß ersetzt und Wände weiß übertüncht. Nach und nach verschwanden Figuren von den Türmen. Die Französische Revolution zerstörte die Inneneinrichtung. Für die Revolutionäre diente der „Tempel der Vernunft“ sogar als Weindepot. Als Napoleon Bonaparte sich selbst in der Notre-Dame die Krone aufsetzte, war das Bauwerk bereits in so schlechtem Zustand, dass der Innenraum mit Teppichen verhängt werden musste. Die Julirevolution setzte schließlich dem Sakralbauwerk derart zu, dass sein Verfall beschlossen schien. Es ist das Verdienst eines Literaten, mit seiner Feder den Schlussstrich unter den Niedergang der architektonischen Errungenschaft am Seineufer zu ziehen und maßgeblich zur großen Restaurierung ab 1844 beizutragen.
Längst hielt der ursprünglich französische Titel des Romans „Notre-Dame de Paris“ Einzug in die Weltliteratur. In der vergangenen Karwoche erfreute er sich in Frankreich wieder höchster Beliebtheit: Victor Hugos „Der Glöckner von Notre-Dame“ stieg über Nacht auf Platz eins der Amazon-Buchverkäufe. Die Geschichte eines verwachsenen Buckligen und der liebreizenden „Esmeralda“, alias Agnes (Lamm), wurde vom Autor keineswegs als triviale Unterhaltungs-Novelle angelegt. Es war vielmehr eine Art Werbebroschüre, die Aufmerksamkeit und Spenden generieren wollte – mit Erfolg. Hugo lenkte den Blick seiner Zeitgenossen auf das gotische Erbe. Keinesfalls sollte es für zeitgemäßes Bauen geopfert werden. Bereits in einem Artikel mit der Überschrift „Krieg gegen die Zerstörer“ appellierte Hugo für die Rettung und Erhaltung der mittelalterlichen Architektur.
Im „Glöckner“ nutzte der Schriftsteller und Politiker großzügig – und unverhältnismäßig – ganze Passagen, die sich beispielsweise nur mit den Glasfenstern beschäftigten, um zu sensibilisieren. So konzipierte er auch seinen „Quasimodo“ als Namensvetter eines Glockenschlags (1. Sonntag nach Ostern). Dichterisch umschrieb er „die alte Königin unserer Kathedralen“. Unermüdlich wies er auf ein ihr innewohnendes Geheimnis hin. Er rettete nicht nur die „Sinfonie aus Stein“ vor ihrem Untergang, sondern machte sich selbst unsterblich im Herzen der Franzosen: Sie setzten ihn gleich mit Molière, Voltaire oder Balzac.
Woher hatte Victor Hugo sein Gespür für die gotische Architektur? Woher kam seine Motivation? Woher sein Wissen? War er vielleicht ein „Louveteau“? Jedenfalls wurde sein Vater Joseph Léopold Sigisbert Hugo (1773–1828) unter Napoleon 1809 zum General befördert und in den Grafenstand erhoben – er war ein Freimaurer.
Die Bedeutung der Notre-Dame von Paris ist nicht unmittelbar sichtbar
Der 2014 verstorbene französische Historiker Jacques Le Goff war der Meinung, dass jedermann – vom den kultiviertesten bis zu den einfachsten Leuten – (s)einen Sinn in den Kathedralen findet.
Theologen finden ihre Bedeutung zumeist in dramaturgischen Qualitäten auf die Messe bezogen (religionsdidaktisch). Im Mittelpunkt der Liturgie steht die Eucharistiefeier. Sie ist ein gemeinschaftliches Erlebnis, das ein Himmlischkeitsgefühl erzeugen soll, was in einer perfekten Atmosphäre am besten zum Tragen kommt.
Historiker finden ihre Bedeutung in der Betrachtung des gotischen Kathedralbaus als Verbund und bewerten das schnelle Wachstum gesellschaftspolitisch. Das einst schwache französische Königtum (Kapetinger, Valois) protegierte die Bautätigkeiten, um die Bürger und Bischöfe gegen die lokalen Feudalherren in Stellung zu bringen (auch gegen die Engländer und Burgunder).
Architekten finden in der Notre-Dame des Erzbistums eine „Kirche der Baumeister“. Bautechnisch wurde sie sehr genau nach System (Bauhaus) auf dem Reißbrett entwickelt. Trotzdem blieb die Ästhetik lebendig und ermöglichte künstlerische Feinheiten und detaillierte Raffinesse.
Leider ist uns heute die Gotik ein Buch mit sieben Siegeln. Es gilt aber als gesichert: Eine Kathedrale wurde nicht als „Kulisse“ aufgestellt! Für Le Goff waren die Bauwerke Monumente mit dem größten Reichtum an Bedeutung überhaupt: „Ich weiß nicht, ob sich unter den modernen weltlichen Bauten welche finden, die ihnen darin vergleichbar sind?“ Alchemisten versammelten sich heimlich in der Nacht in der Notre-Dame, um das Bauwerk mit seinen hermetischen Symbolen zu studieren, so Fulcanelli, genau hierfür sei sie erbaut worden.
Doch für wen und wofür wurden sie einst tatsächlich errichtet? Die Notre-Dame in Paris wurde für den „Menschen“ selbst errichtet und will als ein antiker Tempel verstanden werden. Ihre Ausrichtung (Lage), ihre Proportionen und ihre verschiedenen Ebenen ergeben ein intelligibles Abbild der Schöpfung. Die Funktion eines solchen Tempels liegt darin, die Verbindung von Erde mit der Unterwelt und dem Himmlischen herzustellen. Die Idee wird im Weltenbaum der Edda sichtbar, der im Untergrund sein dunkles Wurzelwerk ausbaut und gleichzeitig seine himmelszeltbildende Krone zum Licht erstreckt. Im Irdischen werden Oben und Unten miteinander verbunden: Im Stamm.
Im „Großen Werk“ schwingen die Dimensionen der Schöpfung miteinander
Für die Erbauer thront die Kathedrale im „Fluss des Lebens“. Tief im Untergrund ein Kanalsystem und ein gewaltiges Fundament, das aus mächtigen Grundpfeilern für die Ewigkeit besteht – für die Altvorderen das Abbild der „Unterwelt“. Nach oben streben die Säulen des Steingiganten und finden sich im Gewölbe zusammen. Die lichtgefluteten Galerien mit dem farbigen Glas, das wie Früchte eines Baumes erblüht, vereinen sich alle im Abbild des Himmels. Im Ebenirdischen werden diese Dimensionen durch ein „philosophisches Maß“ miteinander gebunden, das auf den Besucher – bewusst und unbewusst – wirkt. Die beiden Nord- und Südtürme verstärken dieses Anliegen und präsentieren noch einmal die Essenz dieser Philosophie in eigener Weise. Man nannte diese Funktion eines Tempels auch das „Große Werk“, weil hier die Dimensionen der Schöpfung miteinander schwingen.
Die Erbauer präsentierten ursprünglich jedem Besucher diese Analogie (Erkenne dich selbst!). Denn den Menschen war früher noch geläufig, dass die Heilige Schrift vielfältig darauf verweist, dass der eigene Leib schließlich der „Tempel“ sei. Im Erkennenden sollen demnach diese Dimensionen verankert werden: Ordnung (Ausrichtung) im weltlichen „Chaos“ schaffen / das Geistige in die Materie bringen / Licht ins Dunkel.
Freimaurer finden traditionell im Mittelpunkt ihrer Arbeit einen alten symbolischen Grundriss – komprimiert als philosophisches Abbild eines Tempels, aber auch das „Buch des hl. Gesetzes“. Victor Hugo betonte, dass die „Bibel der Menschheit“ in der Kathedrale Stein geworden sei. Der Tapis mit seinen Symbolen zusammen mit der Bibel waren für die alte Maurerei der Schlüssel für die Offenbarung. Für sie war die Gotik kein Buch mit sieben Siegeln. „Kathedrale“ (lat. cathedra) bedeutet ja auch „Stuhl des Meisters“. Eine Notre-Dame war deshalb für die Alten ein „Einweihungsbau“.
Notre-Dame-Kathedralen gibt es in ganz Frankreich, z. B. in Amiens, Reims, Rouen oder Laon. Einige von ihnen lassen zusammengenommen das Sternbild Virgo (Jungfrau) erkennen. Das ist nicht außergewöhnlich, denkt man an das Plateau von Gizeh in Ägypten.
Die Bezeichnung „Notre-Dame“ (Unser aller Frau) hängt mit dem Sternbild Jungfrau zusammen und korreliert für Christen mit der Jungfrau Maria (Mater Nostra). Eine der ältesten „Maria“ geweihten Notre-Dame-Kathedralen steht in Straßburg. Von Beginn an wurde sie mit dem Sternbild Jungfrau „in Einklang“ gebracht. Die Kathedrale in Paris steht ebenfalls auf einer Insel und ist als Notre-Dame geweiht. Auch ihre Baulinie differiert um etwa 30 Grad von Osten, aber oppositär zu Straßburg. Die Kathedrale am Seine-Ufer ersetzte nämlich um 540/550 n. Chr. einen Vorgängerbau, der St. Etienne (hl. Stefan) geweiht war. Dessen Bauline ist beibehalten worden. In Paris gibt es – wie in fast jeder Kathedrale – zwischen Chor und Mittelschiff einen kleinen „Knick“ in der Achse. Für Historiker scheint oftmals technisches Unvermögen die Ursache zu sein. Nur langsam nähert man sich dem verborgenen Sinn, der bewusst den „himmlischen“ vom „irdischen“ Teil einer Kathedrale unterscheidet (Reidinger). Die Baumeister haben das unter Berücksichtigung des Sonnenlaufs exakt bestimmt.
Das spirituelle Zentrum der Stadt und des Landes
Bislang sah man die Kathedrale von Paris nicht direkt in der Konstellation von Jungfrau (Charpentier, Matter). Erst die Entdeckung eines zweiten Sternbildes Draco (Drachen) bindet Paris mit ein (Wabbel). Fast ausschließlich Notre-Dame geweihte Kathedralen formen geographisch den Drachen – die Jungfrau hingegen wird mehrheitlich von Kathedralen des St. Etienne geographisch gebildet. Paris war ursprünglich auch eine St. Etienne – erst später wurde sie zur Notre-Dame. Sie steht somit für beide! Tatsächlich liegt bei erneuter Betrachtung Paris (mit St. Denis, der Grablege französischer Könige) im Mittelpunkt beider Konstellationen. Für die Altvorderen war (nach der Offenbarung 12,1–4) die Beziehung zwischen „Jungfrau und dem Drachen“ sehr bedeutend. Die Notre-Dame von Paris hat eine besondere Stellung im Netzwerk der Kathedralen. Das Geheimnis, das Victor Hugo seinen Lesern vermitteln wollte, ruht im Grundriss.
Es heißt, dass Kathedralen auf energetischen Kreuzungspunkten heiliger Linien (Ley-Lines) errichtet wurden und schon in prähistorischer Zeit Kultorte darstellten. Die Bauline der Notre-Dame ist zentral für ganz Paris! Das Gründungszentrum der französischen Hauptstadt liegt auf der Insel. Bevor hier im 4. Jahrhundert erstmals eine christliche Kirche entstand, befand sich dort ein Tempel Jupiters (unterhalb des heutigen Chors). Als keltische Siedlung namens „Lutetia“ wuchs sie unter den Römern zu einer Stadt heran, die nach dem Himmel ausgerichtet wurde. Ein religiöser Akt, von Priestern begleitet. Die römische Landvermessung basierte auf einer rechtwinkligen Konstruktion, die durch zwei Hauptachsen einen Kreuzungspunkt (locus gromae) ermittelte. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit lag er dort, wo heute die Notre-Dame steht – demnach das spirituelle Zentrum der Stadt.
Die Ost-West-Achse (decumanus maximus) der einst antiken Stadt prägt noch heute das Bild und liegt parallel zur Baulinie der Notre-Dame – dazwischen verläuft die Seine: Die Hauptstraße der Champs Elysées. Hier entlang bauten schon Caterina de’ Medici, der „Sonnenkönig“ und Napoleon, zuletzt der französische Staatspräsident François Mitterrand. Die Achse verläuft vom Großen Bogen von La Défense durch den Triumphbogen des Sterns zum Platz der Einheit (Obelisk von Luxor) bis zum Louvre. Dessen Grundriss ist gespiegelt nahezu identisch mit dem ägyptischen Tempel von Luxor – sogar der Knick der Baulinie ist mit 6,33 Grad identisch. Die Franzosen sind davon überzeugt, dass es eine sakrale Sichtweise benötigt, um den städtebaulichen Plan ihrer Hauptstadt als eine tiefgründige Symbolik mit philosophischen Lehren zu verstehen.
Die Bienen setzen ein Zeichen
Jedenfalls bleibt jetzt erst einmal die „Teufelstür“ der Notre-Dame bis zum Ende der Restaurierung geschlossen. Immer wieder gerieten Kathedralen in Brand. Immer wieder sind sie auferstanden! Darin sind sie uns ein lebendiges Symbol des „Phönix aus der Asche“. Zum Abschluss die vielleicht schönste Zwischenmeldung nach dem Kirchenbrand, die sich wie eine freimaurerische Allegorie liest. Ein altes Symbol der Freimaurer war der Bienenkorb. Honig wurde seit jeher mit der Kraft der Sonne und symbolgleich mit Gold assoziiert. Das fleißige Treiben der Bienen, das im Winter ruht und mit der Zunahme an Tageslicht wieder beginnt, war auch Sinnbild für den Sieg des Lichts über die Finsternis. Deshalb finden sich Bienenstöcke auch auf Kathedralen (z. B. Rosslyn Chapel). Seit 2013 auch in Paris: Auf dem Dach der Sakristei leben rund 180.000 Bienen in drei Bienenstöcken. Welch ein schönes Zeichen nach der Katastrophe, als auch Satellitenbilder bestätigten, dass diese Bienenstöcke erhalten geblieben sind. Für Bienen ist Kohlenstoffmonoxid (CO) ungefährlich. Die Bienen geben bei einem Brand ihre Bienenstöcke nicht auf, sondern saugen sich mit Honig voll und nehmen schützend ihre Königin in die Mitte, so der Kirchenimker Nicolas Géant zur französischen Nachrichtenagentur AFP. Es lebe der Symbolismus!
Die Grande Loge Nationale Francaise (GLNF) hat sich in einem Schreiben vom 29. April an alle befreundeten Großlogen für die weltweite Anteilnahme gedankt und mitgeteilt, dass sie sich über ihren Hilfsfond „Fondation de la GNLF“ an der Finanzierung des Wiederaufbaus der Notre-Dame in Paris beteiligen wird. Über die Internetseite www.fondationglnf.com ist es möglich zu spenden und sich über die den Fortgang der Hilfsaktion zu informieren.

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 4-2019 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.