
Die Tugend der Toleranz spielt nicht nur für uns Freimaurer, sondern für alle freien und offenen Gesellschaften eine zentrale Rolle, um dauerhaft unser friedliches, geordnetes und prosperierendes Zusammenleben zu sichern.
Sie gehört, wenig verwunderlich, nicht zum Kanon der sieben klassischen Tugenden in der abendländischen Tradition, die sich aus den drei göttlichen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) und den vier sogenannten Kardinaltugenden (Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung) zusammensetzen. Denn sie ist ein „Kind der Aufklärung“, geschaffen vor dem Hintergrund der erbitterten Religionskriege des 17. Jahrhunderts auf dem Kontinent wie auf der britischen Insel, getragen von dem Verlangen, endlich Hexen- und Ketzerverfolgung zu überwinden.
Sie wurde (u.a. von Voltaire) zunächst als Ausdruck wechselseitiger Duldung angesehen, ausgehend von dem lat. Verb „tolerare“: hinnehmen, ertragen. Doch schon für Kant (in seinem „Traktat zum ewigen Frieden“) stellt sie im Grunde die Frage nach dem Verhältnis zur Macht, nicht nur der Obrigkeiten. Für Bruder Lessing ist sie erst dann verwirklicht, wenn Standpunkte des Anderen nicht nur hingenommen werden, sondern konstruktive und gegebenenfalls kritische Anteilnahme finden. John Stuart Mill sieht das Individuum am besten vor den Übergriffen von Staat und Gesellschaft durch die drei Freiheiten geschützt: Gewissens- und Diskussionsfreiheit, persönliche Freiheit der Lebensführung und Vereinigungsfreiheit, die nur dann gewährleistet sind, wenn alle Bürger ein Mindestmaß an tolerantem Umgang miteinander pflegen. Für Karl R. Popper, der in seinem zentralen Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ einen Weg heraus aus den Gefahren der Autokratien des 20. Jahrhunderts aufzeigen wollte, kulminiert sie in dem Willen, im gesellschaftlichen Zusammenleben letztlich alles hinzunehmen und lediglich die Intoleranz nicht zu tolerieren.
Der Schlussstein der Menschenrechte und des Pluralismus
Schließlich wurde die Toleranz 1995 von der UNESCO in ihrer „Erklärung zu den Prinzipien der Toleranz“ sozusagen völkerverbindlich und völkerverbindend definiert als „Universalwert, als notwendige Voraussetzung für Frieden und für wirtschaftlich-soziale Entwicklung der Völker“. Sie bedeutet heute Respekt vor dem Mitmenschen, unabhängig von seiner Herkunft, Rasse, Religion usw., Anerkennung der Kulturen der Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltung des Zusammenlebens in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. Sie ist folglich nicht nur moralische Verpflichtung, sondern auch politische und rechtliche Notwendigkeit, insgesamt also deutlich mehr als bloßes Geschehenlassen oder gar schlichte Duldung oder Akzeptanz des Unabänderlichen. Es geht letztlich um die dauernde Auseinandersetzung mit veränderbaren Verhaltensweisen und (Glaubens-) Ansichten jedes Einzelnen. In der genannten UNESCO-Erklärung wird sie „zum Schlussstein der Menschenrechte und des Pluralismus“ erhoben, der „Demokratie und Rechtsstaat zusammenhält“.
Für die Freimaurer hatte die Toleranz von Anfang an besondere Bedeutung. Unsere Brüder haben sich im 18. Jahrhundert zunächst als ein Bund verstanden, der Humanität und Brüderlichkeit miteinander verbindet und so die häufig von Politik, Religion und Gesellschaft geprägten Gegensätze zu überwinden hilft, was ein hohes Maß an Toleranz voraussetzt. Unser zeitgenössischer Bruder Zippe fasst die sich aus dem Toleranzgebot ergebenden Pflichten für Maurer so zusammen: Welchen Beitrag können wir für ein Zusammenleben aller Menschen in Frieden und Freiheit unter dem Aspekt der Mitmenschlichkeit leisten? Wie können wir auf Verbindungen hinwirken, die auf gemeinsamen Interessen und Werten basieren, jedoch Differenzen ermöglichen und Flexibilität erlauben, um so gemeinsam Werte zu definieren, auf die sich alle Menschen einigen können?
Der in der Bantusprache im südlichen Afrika geprägte moralisch-ethische Begriff des „Ubuntu“, der mit den Worten „Ich bin, weil wir sind“ ebenso knapp wie treffend die afrikanische Version der Toleranz definiert. In der besonders von Desmond Tutu geprägten Ubuntu-Theologie wird so umschrieben: „Das Menschsein einer Person wird durch ihre Beziehung zu anderen Personen bestimmt“.
Spaltung der Gesellschaft durch Toleranz überwinden
Seine Erfahrungen mit der (In-) Toleranz zeit seines Lebens hat Alt-Bundespräsident Joachim Gauck — gemeinsam mit Helga Hirsch — bewogen, sich gerade vor den zunehmend besorgniserregenden Entwicklungen in unserem Land, in einer offenen, freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft, mit dieser zentralen Tugend intensiv auseinanderzusetzen. Nach dem konzisen und die ganze Bandbreite aufzeigenden Rückblick über die Entwicklung des Toleranzbegriffs definiert Gauck in sehr anregender Weise in zwölf Aspekten sein Verständnis von der Toleranz (u.a. Toleranz als Duldung, als Koexistenz, als Ausdruck von Liebe, als scheinbarer Widerspruch in sich, als Emanzipations- und Lernprozess, als Freiheitserlebnis) und ihrem Potential für den einzelnen Menschen wie für die Gemeinschaft — in welchem „Aggregatzustand“ auch immer.
Die Autoren beschreiben, wie nachlassender existenzieller Druck und die Ausweitung von kollektiven und individuellen Freiräumen nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen die Wertehierarchie verändert und einen Wertewandel mit im Ergebnis positiven Folgen für mehr praktische Toleranz ermöglicht haben. Zugleich belegen sie, wie die Globalisierung und vor allem die Massenimmigration dazu führen, dass die Gesellschaft sich neu sortiert. Sie spalte sich dabei in progressive Weltbürger als Gewinner der Entwicklung einerseits und die sich in ihrer sozialen Existenz zunehmend gefährdet sehenden, „abgehängten“ Bürger, was den Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, schwinden lasse. „Demokratie aber lebt von der Verständigung und der Toleranz unter den Verschiedenen“ und deshalb stellen sie die Frage nach den „Erwartungen und Grenzen: Wie viel Toleranz lässt sich lernen?“
Wenn aber die auch nur als solche empfundene Bedrohung durch gesellschaftlichen Wandel und durch den Fremden mit schwindendem Respekt vor Autoritäten und Institutionen einhergehe, erodiere die Gruppenidentität oder zerbreche der gesellschaftliche Konsens und damit die Bereitschaft und Fähigkeit zur Toleranz. Die Suche nach zukunftsorientierten Lösungen setze daher in einer liberalen Demokratie voraus, dass auch der durch autoritäre Dispositionen geprägte Bevölkerungsanteil „mitgenommen“ wird. Dessen Existenz müsse nach den Erkenntnissen der jüngeren soziologischen Forschung ohnehin akzeptiert und dürfe nicht negiert werden. Hier bestehe landesweit kollektiver Nachholbedarf und die Bereitschaft zu akzeptieren, dass die Bürger im Ostteil Deutschlands beim Versuch der Zukunftsbewältigung deutlich größere Distanzen zu überwinden hätten als „Westdeutsche“. Im Blick auf unsere mittelosteuropäischen Nachbarn bedeute das eben auch, im Interesse des europäischen Zusammenhalts die historisch bedingten Andersartigkeiten zu berücksichtigen. Das Fehlen von Debattenkultur, von uneingeschränkter Gedanken- und Meinungsfreiheit, von Einübung in Vielfalt und (gelebter) Toleranz über zwei Generationen habe dort zu Defiziten geführt, die erst überwunden werden müssten.
Keine Denkverbote tolerieren
Gauck und Hirsch arbeiten deutlich heraus, dass diesen Phänomenen nicht durch schweigende Hinnahme, sondern nur durch aktive Auseinandersetzung mit dem Verhalten und vor allem den meist oberflächlichen, pauschalisierenden Argumenten dieser Mitbürger beizukommen sei. Dabei seien nicht „Institutionen und Instanzen“ gefordert, sondern „Frau und Herr Jedermann“, gerade weil ihnen Fremdenfeindlichkeit, Ressentiments und Homophobie in ihrem täglichen Leben am Arbeitsplatz, im Sportverein usw. begegneten. Zugleich warnen sie zu Recht vor repressiver Toleranz und der Gleichsetzung von „rechts“ und „rechtsradikal“. Tolerantes Verhalten zeichne sich dadurch aus, das gleiche Recht für entgegengesetzte Doktrinen anzuerkennen: „Die Toleranz muss sich auf alle Menschen erstrecken, ausgenommen diejenigen, die das Prinzip der Toleranz leugnen“. Gauck sieht es deshalb als verantwortungslos an, wenn Konservative, die als rechts von der Mitte stehend nicht automatisch als rechtsradikal einzustufen seien, „nicht als Verbündete im Kampf gegen Rechtsextreme und Rechtspopulisten begriffen werden.“ Gleichermaßen ruft er zum Kampf gegen Linksradikalismus auf. Erstaunlich ist, dass seine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus weniger intensiv als erwartet ausfällt, aber das mag daran liegen, dass das Buch lange vor der Schreckenstat von Halle publiziert wurde.
Die Autoren setzen sich auch intensiv auseinander mit den Zumutungen der politischen Korrektheit, ihren Auswirkungen auf unseren Sprachgebrauch und die damit häufig einhergehende „tugendgeleitete Überreaktion“, die eine neue Intoleranz mit Wahrnehmungs- und Denkverboten hervorbringe mit der Folge, dass das möglicherweise Inkorrekte nicht nur als falsch, sondern als böse hingestellt werde. Gauck wehrt sich deshalb ausdrücklich gegen den Versuch „der politisch Korrekten“, ein Monopol ihrer Ansichten im öffentlichen Raum durchzusetzen, wie wir das jüngst bei den Störungen der Auftritte von Lucke, de Maizière und Lindner an deutschen Hochschulen erleben mussten. Politische Korrektheit im Sinne einer politischen und ethischen Orientierung sei nötig, aber es müsse möglich bleiben, über Zielvorstellungen und die besten Wege dahin kontrovers zu diskutieren.
Toleranz muss kämpferisch sein
In einem weiteren Kapitel setzen sich die Autoren eingehend mit den Folgen schwindender Homogenität in einer Gesellschaft auseinander, die schon heute zu 20% aus Mitbürgern*innen besteht, die einen Migrationshintergrund haben. Vor diesem Hintergrund schwebt Gauck ein ausdrücklich als solches bezeichnetes Modell vor, bei dem sich Einheimische und Eingewanderte auf einen gemeinsamen Grundbestand einigen, in dem sich Erstere offen gegenüber den bereichernden Elementen der zugewanderten Kulturen zeigen, während Letztere die Geschichte und Kultur ebenso wie die verfassungsmäßige Grundlage des „Einwanderungsstaates“ respektierten und beide in einem „kontroversen, doch konstruktiven Dialog“ um Lösungen in Einzelfragen ringen. Dabei sei für jeden Migranten der Übergang zwischen den beiden ihn prägenden Welten eine Herausforderung. Eine offene und tolerante Mehrheitsgesellschaft könne dabei die „Beheimatung“ und Loyalität der Hinzugekommenen durch offenes Entgegenkommen fördern.
Am Beispiel der Debatte um das Tragen eines Kopftuchs durch muslimische Mädchen zeigt Gauck auf, dass die „wohlwollende staatliche Neutralität“ in Glaubensfragen immer wieder auf die Probe gestellt wird und der Nachjustierung bedarf. Dies werde auch im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung in Deutschland mit Intoleranz von Migranten, dem politischen Islam, dem Entstehen von Parallelgesellschaften deutlich, die aus einer starken Mitte heraus eine eindeutige Reaktion auf fundamentalistische Intoleranz erfordere, denn „Toleranz gegenüber Intoleranz bewirkt … das Gegenteil des Intendierten“.
So spricht sich Gauck in den Schlusskapiteln u.a. für eine entschiedene Politik aus, die keine Repression, sondern eine emanzipatorische Politikvariante in Situationen sei, in denen das Recht zunehmend missachtet und die Sicherheit der Bürger bedroht sei. In seinem Schlussplädoyer tritt er folgerichtig für eine kämpferische Toleranz ein, die unerlässlich sei — für das Individuum wie die Gesellschaft. Sie zu leben sei nicht nur eine Tugend, sondern auch ein Gebot der politischen Vernunft. In einem von Toleranz geprägten Debattenraum könnten sich so prozesshaft Lösungen entwickeln, die von der Mehrheit mitgetragen werden und den Bedenken der Fortschrittsskeptiker Rechnung tragen könnten. Tolerieren und verteidigen der Toleranz gegen Intoleranz gehörten zusammen.
Der Altbundespräsident und seine Co-Autorin haben mit ihren flüssig geschriebenen Darstellungen einen wichtigen Debattenbeitrag geleistet, der zu Recht lange auf den Bestsellerlisten stand. Uns Freimaurer kann das Buch zur vertieften Beschäftigung mit dem Thema Toleranz anregen.
Buchtipp: Joachim Gauck (mit Helga Hirsch): „Toleranz: einfach schwer“, Herder 2019, ISBN 978-3-451-38324-3, Hardcover, 224 S., Preis: 22,00 EUR

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 1-2020 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.