Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (AFuAMvD)

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Tradition im Schmortopf

Modernität gelingt nur mit dem Bewusstsein für das Vergangene.

Gelesen von Hasso Henke

Das junge Paar war frisch verheiratet. Eines Tages beschloss die Ehefrau, eine Lammkeule zu schmoren. Doch bevor sie das Fleisch in den Ofen schob, schnitt sie von der Keule das untere Stück ab und legte die zwei Teile nebeneinander in den Schmortopf. Ihr Mann schaute ihr über die Schulter und fragte sie: „Warum machst du das?“ „Ich weiß nicht, aber meine Mutter machte das immer genauso“, lautete die Antwort. Daraufhin fragte der Mann seine Schwiegermutter, warum sie das untere Stück der Keule abschnitt. „Ich weiß nicht, aber meine Mutter machte das immer genauso“, antwortete die Schwiegermutter. So ging der Mann zur Großmutter und fragte auch sie, warum sie den unteren Teil der Lammkeule vor dem Schmoren abschnitt. Und sie antwortet: „Ach, das hat einen ganz einfachen Grund: Mein Schmortopf war damals so klein, dass der ganze Braten einfach nicht hineinpasste.“

Wir Freimaurer halten viel von Tradition. Viele unserer Logenhäuser sind altehrwürdige Gebäude. Und in unseren Tempelarbeiten wird uns dann deutlich, was Tradition bedeutet. Als Freimaurer blicken wir auf eine lange Tradition unseres Bundes zurück. Ähnlich wie bei dem jungen Ehepaar verlieren sich viele tradierte Sitten und Gebräuche, Symbole und Weisheiten im Dunkel der Vergangenheit. Doch egal, wo ihre Ursprünge liegen – manchmal gebietet es die Zeit, in der wir leben, geradezu, dass wir uns auf unsere Traditionen stärker besinnen. Kaum eine Veröffentlichung über Freimaurerei kommt ohne die Erwähnung unserer reichhaltigen Tradition aus, meist verbunden mit der Nennung klangvoller Namen von Brüdern, die ehemals Mitglieder in unserem Bund gewesen sind. Es gibt nicht wenige Brüder, die dabei die Augen rollen und tief durchatmen, denn sie wollen die Freimaurerei als moderne, aufklärerische und in die Zukunft gewandte moderne Organisation sehen. Sie verstehen das Bekenntnis zu unseren Traditionen als unmodern, rückwärtsgewandt und überflüssig. Doch ist das so?

Glüht in uns noch das Feuer unserer vormaligen Brüder?

Sind wir, wenn wir über Traditionen sprechen oder unsere alten Rituale leben, tatsächlich rückwärtsgewandt? Oder gilt nicht auch für uns der Satz, dass nur der, der weiß, woher er kommt, auch eine Idee davon entwickeln kann, wo er hinwill? Und haben nicht gerade die Träger dieser bedeutenden Namen, die wir auch heute noch Brüder nennen dürfen, mit ihren Ideen und Taten das große Gebäude der Freimaurerei errichtet, in dem wir uns heute bewegen? Vieles von dem, was sie gesagt haben, ist noch heute so aktuell wie damals.

Schaue ich heute zum Beispiel auf die Politik, vor allem darauf, wie Gesetze gemacht werden, kommen mir unweigerlich die Worte aus Goethes „Iphigenie auf Tauris“ in den Sinn, mit denen Iphigenie König Thoas die Stirn bietet und ihm sagt: „Wir fassen ein Gesetz begierig an, das unserer Leidenschaft zur Waffe reicht. Ein anderes spricht zu mir, ein älteres, mich dir zu widersetzen!“ Wer will behaupten, dass diese Sätze in der heutigen Zeit nichts mehr zu suchen hätten? Vieles, was als alt und unmodern verschrien ist, hat seit Goethes Zeiten nichts von seiner Aktualität eingebüßt.
Wir sollten nicht vergessen, dass viele Ereignisse der Weltgeschichte, die bis heute nachwirken, mit Freimaurern verbunden sind. Beispiele sind die Französische Revolution, bevor sie in die Grande Terreur abdriftete, die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund, der Entwurf der Vereinten Nationen, die UN-Menschenrechtscharta, der Marshallplan oder die erste Mondlandung. All das sind Ereignisse, an denen Freimaurer entweder als Ideengeber, aufklärerische Vorbereiter oder Handelnde beteiligt waren. Die Idee der Gewaltenteilung, erstmals formuliert vom Freimaurer Montesquieu, sichert bis heute den Fortbestand unserer Demokratie. Die Menschenrechtserklärung von 1789, entworfen von den Freimaurern Mirabeau, Lafayette und Sieyès hat jede ihr nachfolgende und zivilisierte Nation geprägt. Doch blicken wir zurück, müssen wir leider feststellen, dass die Freimaurerei heute offensichtlich in der Gesellschaft, in Politik und Wissenschaft an Einfluss verloren hat. Aber woran liegt das, wo doch ihre ethisch-moralische Grundhaltung dort dringend geboten wäre? Haben wir Freimaurer uns dem Diktat des Zeitgeistes, seiner Hektik, der Rationalisierung von Denken und Handeln und dem Effizienzstreben in allen Bereichen unserer Gesellschaft unterworfen? Oder glüht in uns doch noch das Feuer der Brüder, die die Bewegung der Aufklärung, der Wissenschaften, der freien Völker und des freien Denkens begründeten? Wo sind heute die Freimaurer in der Politik, wenn es darum geht, Länder miteinander zu versöhnen und Frieden zwischen Nationen zu stiften? Wo sind sie, wenn Menschenrechte bedroht sind, der Mensch entmenschlicht und zum Stimmvieh degradiert wird? Wo sind sie in den Wissenschaften, wenn es darum geht, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen? Wo sind sie in der Wirtschaft, wenn es um „Mensch vs. Rendite“ geht? Wer begehrt öffentlich auf, wenn Massenentlassungen zu steigenden Börsenkursen führen und Menschen nur noch als Kostenfaktor gesehen werden? Wo sind die großen Fragezeichen, wenn Digitalisierung und Künstliche Intelligenz gehypt werden, wohl in Ermangelung irdischer Intelligenz bei Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft.

Tradition darf nicht zum Selbstzweck werden

Ehrlich gesagt, sind es nach meinem Geschmack viel zu wenige, die unsere Ideen und Werte an den entscheidenden Stellen einbringen und sie verbreiten. Aufklärung, Demokratie und Menschenrechte waren keine Geschenke, die vom Himmel fielen, sie mussten stets hart und gegen viele Widerstände erkämpft werden. Damit wurde der Menschheit ein unschätzbares und unbezahlbares Vermögen gestiftet. Doch meine Befürchtung ist, dass wir heutzutage von diesem Vermögen, das wir von unseren Brüdern geerbt haben, lediglich zehren, aber dass zu wenig für seinen Erhalt oder sogar seine Vermehrung getan wird. Natürlich muss ich den Brüdern Recht geben, die ein Verharren in starren Traditionen kritisieren, vor allem, wenn dies zum alleinigen Inhalt und Selbstzweck wird. Das Bewusstsein um diese alten Traditionen jedoch, das Bewusstsein um unsere Geschichte und um die vielen positiven Beispiele, die uns unsere vormaligen Brüder mit ihrer Neugier, ihrer Hingabe und ihrer Opferbereitschaft gegeben haben, sollte als das erkannt werden, was es ist: das Fundament für unser aller zukünftiges Handeln. Es ist der Fixstern an unserem Himmel, der uns leitet und uns immer wieder sagt: An diesen Werten sollt Ihr euch orientieren!

Sich zu etwas zu bekennen ist ja schön und gut – aber auch danach zu handeln zeigt die wahre Größe eines Menschen! In unserem Ritual heißt es am Ende: „Geht nun zurück in die Welt, meine Brüder, und bewährt euch als Freimaurer. Wehret dem Unrecht, wo es sich zeigt, kehrt niemals der Not und dem Elend den Rücken, seid wachsam auf euch selbst.“ Dies ist doch ein klar formulierter Auftrag, oder nicht?! Natürlich kann man sinngemäß Unrecht auf Gesetzestexte und Not und Elend auf Armut reduzieren, doch ich glaube nicht, dass dies der alleinige Sinn dieser Aufforderung ist. Es ist vielmehr die Aufforderung an die Brüder, an jeden einzelnen von uns, offenen Auges durch die Welt zu gehen und zu erkennen, was in unserer Gesellschaft schief und aus dem Ruder läuft. Wir sollten unsere Gabe bei der Sammlung nicht allein als Almosen für den dafür vorgesehenen Zweck verstehen, sondern vielmehr auch als symbolischen Akt und als Aufforderung, unsere Werte und Ideale zur Verbesserung der Welt nach außen zu tragen und uns dabei aktiv einzubringen. Jeder so wie er kann!

Modernität auf dem festen Fundament der Tradition

Ein Denis Diderot schrieb weder als Autor der „Hochzeit des Figaro“ noch als Autor der berühmten „Encyklopédie“ in dem Bewusstsein, dass er damit viele weitere Aufklärer in Kunst, Politik, Philosophie und Wissenschaft beeinflusste und damit ein Teil jener Kraft wurde, die tatsächlich die Welt veränderte. Und der große – von Diderot inspirierte – Mozart hatte bestimmt keine Vorstellung davon, dass seine Werke noch Jahrhunderte später Profane und Freimaurer in großer Zahl inspirieren und zu den großen Kulturgütern unserer Welt gehören würden. Benjamin Franklin, George Washington, Simon Bolivar, Garibaldi und viele andere kämpften für die Freiheit ihrer Völker und für das, von dem sie damals glaubten, es sei moralisch geboten und ethisch richtig. Sie kämpften mit großem Idealismus, niemals für sich selbst und stets eingedenk ihrer Pflicht. Stresemann, Kellog, Briand kämpften auf politischer Ebene um den Frieden zwischen Nationen, auch wenn es sie persönlich große Opfer kostete und sie sich ständigen Anfeindungen ausgesetzt sahen. Brüder, auf die wir stolz sein können, dass wir sie in unseren Kolonnen hatten, wählten das Wort als ihre Waffe, so wie die Freimaurer Carl von Ossietzky oder Kurt Tucholsky. Sie kehrten der Not ebenso wenig den Rücken wie der Politiker Wilhelm Leuschner, der nach dem 20. Juli 1944 seinen Widerstand gegen die Nationalsozialisten mit dem Leben bezahlte. Wissenschaftler der letzten drei Jahrhunderte, wie Boyle, Ashmole, Ostwald, Brehm oder Fleming brachten die Welt mit ihren Entdeckungen und Erfindungen voran. Und in vielen Fällen retteten sie damit Millionen von Menschenleben. Die NASA-Astronauten Buzz Aldrin, Michael Collins, Jim Lovell, Alan Shephard, Leroy Gordon Cooper waren ebenso Freimaurer und hinterließen auf dem Mond die Wimpel ihrer Logen. Entdecker wie die Polarforscher Robert F. Scott oder die schon fast vergessenen Richard E. Byrd und Bernt Balchen fallen mir ein. Byrd und Balchen warfen 1947 Freimaurerwimpel aus dem Flugzeug über dem Nord- und Südpol ab und gründeten mit 60 ihrer 83 Expeditionsmitglieder bereits 1935 in der Antarktis die „Antarctic Lodge No. 777“. Balchen gründete in Grönland den Thule-Freimaurer-Club, dem mehr als 500 Forscher, Entdecker, Piloten und Techniker angehörten. Die Liste all jener Männer, die Mitglieder unserer Bruderschaft waren und große Leistungen vollbracht haben, ließe sich beliebig fortsetzen. Auffällig ist jedoch, dass all jene Männer zu dem Zeitpunkt, als sie ihre größten Leistungen vollbrachten, sich daran erinnerten, dass sie Freimaurer waren. Viele von ihnen vollbrachten ihre Leistungen auch im vollen Bewusstsein ihrer Zugehörigkeit zur Freimaurerei und führten damit deren große Tradition, die Verbesserung der Welt durch Erkenntnisgewinn und durch die Beseitigung von Missständen, fort.

Deshalb frage ich jene Brüder, die vielleicht mit einem abfälligen Blick auf die Tradition blicken, wo wir heute ohne diese und viele andere unserer vorausgegangenen Brüder wären? Sie alle sind Teil der freimaurerischen Tradition, denn sie alle teilten dieselben Werte und Rituale wie wir. Damit besteht ein unauflösliches Band zwischen ihnen und uns. Die Freimaurerei ist dabei modern, sie war es immer, auf dem festen Fundament ihrer Traditionen! Und ich frage mich und Euch bewusst, was jeder von uns leisten kann, um die Welt ein Stück besser zu machen? Der Auftrag, den wir in jeder Tempelarbeit vom Meister zu hören bekommen, ist klar und deutlich formuliert: „Geht nun zurück in die Welt, meine Brüder, und bewährt euch als Freimaurer.“

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Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 2-2020 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.