
Seit Wochen hält uns das Corona-Virus in Atem und logischerweise berichten die Medien entsprechend. Dabei geht beinahe unter, dass u.a. Deutschland die humanitäre Flüchtlingsaufnahme ausgesetzt hat und Hilfsorganisationen erhebliche Probleme haben. Dirk Planert, Journalist und Freimaurer, hilft seit vielen Monaten in Bosnien und schickt ein Update.
Die Entwicklungen der letzten Tage haben einen erheblichen Einfluss auf unsere Arbeit für Menschen im Kanton Una Sana / Bihac in Bosnien. Bereits vor über einer Woche musste ich alle geplanten Reisen von freiwilligen Helfern, Hilfstransporten und Journalisten absagen. Diese hätten die ersten 14 Tage in Quarantäne verbringen müssen, die Reise ist damit sinnlos. Das hat dazu geführt, dass Einkäufe (Nachschub) durch Freiwillige usw. weggefallen sind.
Vergangenen Freitag habe ich die Information bekommen, dass die Grenzen geschlossen werden. Da wir alle die Entwicklung nicht wirklich absehen können, habe ich mich entschieden, nach neun Monaten Einsatz auf der Balkanroute für eine Weile nach Deutschland zurückzugehen. Das war eine sehr schwere Entscheidung. Das Elend der Flüchtlinge dort hatte ich ja bis Freitag täglich vor Augen. Da ich Eltern, Töchter und Enkelkinder in Deutschland habe, ist mein Platz jetzt jedoch hier. Auch in Bihac war das keine Diskussion. Das haben alle sofort verstanden und mich ermutigt, sofort abzureisen.
Wir werden die Arbeit NICHT einstellen. Ich werde nun von hier aus im “homeoffice” weitermachen. Mein Job ist es, wie gehabt, dafür zu sorgen, dass wir Spendengelder bekommen. Das Team in Bihac arbeitet vor Ort auf mehreren Ebenen weiter:
- Oberste Priorität hat die Verteilung von Lebensmitteln in den Hausruinen und Spots mit unversorgten Menschen.
- Drei Notfallsanitäter, eine Ärztin und einige Ersthelfer im Team von SOS Bihac leisten medizinische Hilfe.
- Wir helfen durch Lebensmittel u.a. an einheimische und bedürftige Rentner, die sich zurzeit wegen des Virus nicht auf die Straße trauen.
- Außerdem verteilen wir Kleidung/Schuhe an Flüchtlinge.
Seit der vergangenen Woche arbeitet das gesamte Team ausschließlich mit Masken und Handschuhen. Auch in Bosnien wird das Desinfektionsmittel knapp. Das stellen wir durch medizinisches Personal selbst her.
Dieses Mal „bettele“ ich nicht allein um Spenden für unsere Arbeit mit SOS Bihac, obwohl wir es gerade dringend brauchen. Den helfenden Kollegen geht es nicht anders: Ich appelliere an uns alle, diejenigen zu unterstützen, die jetzt noch an den Brennpunkten sind. Das sind die lokalen Helfer – überall dort, wo Flüchtlinge sind: Bihac, Tuzla, Sarajevo, Griechenland, Türkei, Syrien.
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Viele private Freiwillige fallen weg. Sie waren aus Deutschland, Österreich, Italien, Schweiz, Polen oder Ungarn angereist, um vor Ort zu helfen. Gerade diese haben aufgefangen, was von Behörden oder den großen Hilfsorganisationen nicht getan wird: Die Versorgung der Menschen, die in Ruinen und an Spots leben oder unterwegs sind. Jetzt sind ausschließlich die lokalen Helfer vor Ort. Das betrifft vermutlich auch Tuzla, Sarajevo und sicherlich auch die Lager in Griechenland. In Bihac sind es vier Frauen, die nach ihren Kräften und je nach Spendenlage, Flüchtlinge versorgen. Und SOS Bihac mit Zlatan Kovacevic und seinem Team. Wenn wir können, unterstützen wir die lokalen Helferinnen mit Hilfsgütern, die sie dann verteilen.
Aufgrund der aktuellen Lage haben Lebensmittel absolute Priorität. Ein Lunchpaket kostet 2,50 Euro. Das reicht für eine Person für maximal zwei Tage. Die Menschen in den Ruinen usw. können häufig auf Feuer kochen (30 Spots haben unsere Öfen) und backen darauf Brot. Diese bekommen für je eine Gruppe eine Kiste mit Mehl und andere Dingen, was dann für mehrere Tage reicht.
Die Stadt Bihac plant, das “Männercamp” Bira aufzulösen und die etwa 1.500 Menschen nach Lipa zu verlegen. Außerdem mehrere hundert, die dort keinen Platz mehr bekommen haben und in besagten Ruinen leben. Lipa liegt etwa 20 bis 30 Kilometer südlich von Bihac. Dort soll ein neues „Camp“ entstehen. Bisher gibt es dort nichts. Wir hoffen alle, das sie erst ein Camp nach internationalen Maßstäben bauen und dann die Menschen dorthin verlegen. Wenn nicht, dann ist ein zweites Vucjak zu erwarten. Die Stadt Bihac selbst hat kein Geld dafür. Laut unserer Leute in Bihac sucht die Stadt Geldgeber. Jetzt wäre die EU am Zug, um ein Vucjak 2.0 zu verhindern, bevor es entsteht.
Der Sommer auf der Müllkippe im sogenannten Jungle-Camp-Vucjak war bereits eine humanitäre Katastrophe. Trotz der Ausnahmesituation, in der wir uns alle befinden, sollten wir die Flüchtlinge auf der Balkanroute und anderen Orten dieser Welt nicht vergessen.

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