Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (AFuAMvD)

Vom eigenen Tod

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Vom eigenen Tod

Von Hans-Hermann Höhmann

Eine maurerische Betrachtung zur Trauerloge

Die Trauerloge, die jedes Jahr im November abgehalten wird, gehört zunächst und vor allem den verstorbenen Brüdern der Loge. Sie bringt die Trauer der Bruderschaft zum Ausdruck, und sie ehrt das Andenken der Verstorbenen. Doch die Trauerloge gilt auch der Reflexion über den Tod als Bestandteil der menschlichen Existenz. Denn wir alle gehen denselben Weg, und der Tod, der unsere verstorbenen Brüder schon jetzt getroffen hat, ist früher oder später das Schicksal jedes Menschen.
Der Nekrolog der Trauerloge spricht von den verstorbenen Brüdern und vom Tod, der ihnen zuteilgeworden ist. Meine Überlegungen handeln vom Tod, der uns alle betrifft, sie handelt vom eigenen Tod, der auf uns zukommt und von dem wir hoffen, dass es in jenem Sinne unser eigener Tod ist, wie Rilke es als Wunsch, ja als Gebet beschrieben hat:

„O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.“

Ob wir es verdrängen oder nicht: Der Tod ist das große Thema unseres Lebens. Denn der Mensch ist das Lebewesen, dem die Schöpfung oder die Evolution — wie immer wir es in unserer persönlichen Weltanschauung sehen — das Bewusstsein des eigenen Todes vermittelt hat.

Dichter, Philosophen, Theologen und Wissenschaftler — sie alle haben sich deshalb — seit der Mensch sich seiner selbst bewusst geworden ist — mit dem Tod beschäftigt: tröstend, verzweifelnd, gläubig, konstruktiv, lebenskünstlerisch, — oder auch nihilistisch wie der ungetreue Fähnrich Jago in Verdis Othello, der sein zynisches Kredo mit den Worten „la mort é nulla“ — „der Tod ist nichts“ — beschließt.

Auch in der Freimaurerei spielen der Tod und die Auseinandersetzung mit dem Ende des Lebens von Anfang an eine große Rolle. Und deshalb kann es jenseits der Erfahrung des dritten Grades kein sinnvolles Ritualerlebnis mehr geben.
Viele Brüder Freimaurer haben dies so verstanden. So schrieb Wolfgang Amadeus Mozart nach seiner Meistererhebung am 4. April 1787 an seinen Vater Leopold, der kurz zuvor gleichfalls Freimaurer geworden war:

„Da der Tod (genau zu nehmen) der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, dass sein Bild allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel Beruhigendes und Tröstendes!Und ich danke meinem Gott, dass er mir das Glück gegönnt hat mir die Gelegenheit (Sie verstehen mich) zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennen zu lernen.“

Alfred Einstein, der Nestor der Mozartforschung, gibt zu diesem Brief in seinem Standardwerk „Mozart. Sein Charakter, sein Werk“ folgenden Kommentar:

„Was war geschehen? In diesem Brief ist wohl noch die Rede von Gott, aber ein katholischer Priester hätte am Geist dieses Briefes schwerlich Vergnügen gehabt. Der Gedanke an den Tod hat nicht das Gefühl der Reue zur Folge, nicht die Furcht, im Stand der Sünde zu sterben, die Vorbereitung durch Beichte und Absolution, sondern im Gegenteil: den Vorsatz, um so inniger und freudiger zu leben. Mozart und sein Vater waren Freimaurer geworden.“

Der Tod als Schlüssel zur Glückseligkeit? Wie ist das zu verstehen? Sicher nicht als Idylle.  Der Tod ist schrecklich — auch für den Freimaurer. Gewiss, der Gedanke an ihn kann — wenn er nicht verdrängt wird — eine verwandelnde, eine positive Kraft besitzen. Und doch: es bleibt eine bedrückende Ambivalenz. Friedrich Gottlieb Klopstock hat in seiner (von Hölderlin in sein Stammbuch eingetragenen) Ode „Die Zukunft“ diese Ambivalenz des Todes auf eindrucksvolle Weise beschrieben:

„Strahlendes Heer, Welten! ist auch ein Erschaffener
Irgend wo noch, wie der Mensch schwach?
Es erschreckt uns
Unser Retter der Tod, sanft kommt er,
Leis’ im Gewölke des Schlafs;
Aber er bleibt fürchterlich uns, und wir sehn nur
Nieder ins Grab, ob er gleich uns zur Vollendung
Führt aus Hüllen der Nacht hinüber
In der Erkenntnisse Land!“

„Fürchterlich“ und „in der Erkenntnisse Land“. Was kann das heißen in Bezug auf den Tod:  Zunächst, dass der Tod unausweichlich ist: Wir erleiden ihn selbst. Menschen, die uns lieb und teuer sind, erleiden ihn. Schuldige und Unschuldige — vor allem Unschuldige — fallen ihm zum Opfer, Unschuldige in Katastrophen, in terroristischen Systemen, im Völkermord, im Krieg, in Pandemien. Krieg? Mathias Claudius — als Dichter wie als Freimaurer von hoher Sensibilität — hat dazu in seinem „Kriegslied“ von 1779 gedichtet:

„’S ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!“

Claudius hat recht, wir begehren Schuldlosigkeit, — doch steht sie uns auch immer zu?  „’S ist leider Krieg“ – das gilt ja auch heute, in Afghanistan, in Libyen, in Syrien und anderswo. Und dann kommt der Tod nicht sanft im Schlaf, sondern fürchterlich, so fürchterlich wie eine existenzielle Herausforderung nur daher kommen kann. Sterben in Auschwitz: Ich erinnere mich an die verzweifelten und doch in ihrer Konsequenz beeindruckenden Worte eines jüdischen Schriftstellers und Holocaust-Überlebenden in Israel: „Gott, seitdem ich in Auschwitz war, weiß ich, dass es dich nicht gibt“. Gott? Mich beschämt, dass es Deutsche, dass es Hitlers willige Vollstrecker waren, die in Auschwitz und anderswo millionenfach zu Mördern wurden, und eine Trauerloge — 82 Jahre nach der Reichspogromnacht — hat wohl auch dieser Toten zu gedenken.

Nein, sanft im Gewölke des Schlafs, so kommt er gewiss nicht immer, der Tod. Er kann banal, brutal und gewaltsam sein. Er kann mit Schmerzen kommen und mit Angst. Wir können auf ihn vorbereitet sein, doch er kann uns auch überraschen. Wir können fröhlich sein und doch plötzlich sterben. Rilke hat dazu wiederum eindrucksvoll gedichtet:

„Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.“

Also: der Tod ist gewiss, seine Stunde ist ungewiss: mors certa — hora incerta, so heißt es lapidar — vielleicht gar trivial — in griechisch-römischer Weisheit, und auf alten Uhren, auf Sonnenuhren zumal, fanden sich oft die Worte una ex his erit tibi ultima — eine von diesen wird dir die letzte (Stunde) sein. Und doch: was wäre ein Leben ohne Fortschreiten, ohne Altern, ohne Tod? Wäre es nicht bloße Langeweile, weil morgen alles so gut ist wie heute und wir die Qualität eines guten Tages, eines Tages voll Glück, gar nicht zu schätzen wüssten, nicht zu schätzen wüssten, weil alle Tage gleich sind.  Und ist es dann paradoxerweise nicht geradezu so, dass erst der Tod die Kostbarkeit des Lebens schafft? Dass der Tod zum Lehrmeister der Lebenskunst wird?

Wilhelm Schmid, akademischer und zugleich praktischer Philosoph und einer der Wiederbegründer philosophischer Lebenskunst, hat in einem Beitrag zu den Lindauer Therapiewochen vermerkt:

„Käme der Tod nicht als Begrenzung, als ‚Horizont‘ im eigentlichen Sinne des Wortes in den Blick, hätte dies ein bedeutungsloses Leben zur Folge, denn es gäbe keinen Grund, sich um ein schönes und erfülltes Leben zu sorgen. Und gelänge es einst, das Leben ewig dauern zu lassen, schwände die Anstrengung, es wirklich zu leben, wohl dramatisch, und die Individuen brächten ihr Leben erst recht damit zu, auf ‚das Leben‘ zu warten. Welchen Ehrgeiz sollte es geben, die schwierige Arbeit des Lebens, ja schon die Mühe des Aufstehens an jedem Morgen auf sich zu nehmen, wenn all dies auf ewig verschoben werden könnte? Der Tod als Grenze des Lebens fordert dazu auf, zu leben und auf erfüllte Weise zu leben.“

Auch der Rat der Philosophen-Schulen um Seneca und Epikur, Leben und Zeit zu unterscheiden und sich bewusst zu werden, dass wir Menschen viel mehr Zeit als bloße Zeit vergehen lassen, als Zeit als Leben zu genießen, führt zu der Erkenntnis, dass erst der Tod das Leben kostbar macht und sich als unverzichtbarer Lehrmeister der Lebenskunst erweist. „Gäbe es den Tod nicht, müsste man ihn wohl erfinden, um nicht ein Leben zu führen, das darin bestünde, das Leben endlos aufzuschieben“ kommentiert Wilhelm Schmid.
Lebenskunst angesichts des Todes heißt: mache dir bewusst und nimm an, was ohnehin kommt. Denke daran, dass du sterben wirst, früher oder später.

Gib deinem Leben, wie kurz es auch sein mag, einen Sinn. Mache daraus etwas Köstliches, etwas Wertvolles für dich und für die Menschen um dich herum. Nimm dich dieser Welt, des einzigen Lebensgrundes, den wir besitzen, in tätiger Verantwortung an, mache diese Welt besser, lasse dich nicht auf andere Welten vertrösten, denn du kannst nicht wissen, ob es diese besseren Welten gibt, nutze den Tag im hier und jetzt, baue am Tempel der Humanität.

Bei der Erarbeitung einer solchen Lebenskunst kann die Freimaurerei auf ihre Weise helfen, insbesondere durch ihre sich in Symbolen ausdrückende und in Ritualen erlebbar werdende Spiritualität. Freimaurerische Spiritualität darf allerdings nicht eng gesehen werden im Sinne einer religiösen Praxis, denn Freimaurerei ist keine Religion. Freimaurerische Spiritualität stellt vielmehr — vor allen Glaubensfragen — eine existenzielle Grundhaltung des Menschen dar, zu der die im Habitus des Maurers verankerte Vernunft und Emotionalität ebenso gehören wie seine Offenheit für neue Erfahrungen und Erweiterungen des Bewusstseins. Die in der Loge vermittelte und erlebte Spiritualität erfasst das Fühlen, Denken und Handeln des Freimaurers und hilft ihm, auf die Herausforderungen seines Anfangs und seines Endes, seines Lebens und seines Todes Antworten zu finden —, auch wenn diese vorläufig bleiben und immer wieder der gelassenen Bestätigung durch ein zur Ruhe kommendes eigenes Ich bedürfen.
Mozart hat dies empfunden, insbesondere im Hinblick auf den Tod. Wie schrieb er doch so schön und freimaurerisch zugleich an seinen Vater, der auch sein Bruder geworden war:

„Da der Tod (genau zu nehmen) der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen bekannt gemacht, dass sein Bild allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel Beruhigendes und Tröstendes! Und ich danke meinem Gott, dass er mir das Glück gegönnt hat mir die Gelegenheit (Sie verstehen mich) zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennenzulernen.“

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 6-2021 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.