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Wertewandel und die Antworten der Freimaurerei

Hans-Hermann Höhmann, Redner der Großloge, referiert in der Kemptner Loge "zum Hohen Licht"
Hans-Hermann Höhmann, Redner der Großloge, referiert in der Kemptner Loge „zum Hohen Licht“

Der Redner der Großloge Hans Hermann Höhmann referierte im Mai 2017 in der Loge „Zum Hohen Licht“ in Kempten über das Thema „Gesellschaft im (Werte-) Wandel: Welche Antworten hat die Freimaurerei. Zahlreiche Zuhörer folgten gespannt seinen Ausführungen, die wir in Folge ungekürzt veröffentlichen.

„Werte sind im Gespräch: In einer neuen „Leitkulturdebatte“ fand Bundesinnenminister Thomas de Maizière dazu jüngst deutliche Worte: „Wir bleiben – unverhandelbar – Teil des Westens, stolze Europäer und aufgeklärte Patrioten. Vor allem die Menschenwürde ist für uns unverhandelbar, auch im Umgang der Menschen untereinander.“

Ja, Werte sind im Gespräch: Auf der einen Seite ist von Wertewandel, wenn nicht gar von Werteverfall die Rede. Auf der anderen Seite wird die Notwendigkeit betont, alte Wertesysteme zu beleben, sie erneut verbindlich zu machen oder gar neue Wertesysteme zu entwickeln. Während in den Medien und der Populärpublizistik eine eher negative Einschätzung dominiert, die meist an spektakulären Ereignissen (Korruptionsskandalen, sexuellen Entgleisungen prominenter Mitbürger, unterschiedlichen Formen von Gewalttätigkeit) festgemacht wird, stehen sich in der Politikwissenschaft, Soziologie und empirischen Sozialforschung zahlreiche analytische Ansätze mit unterschiedlichen Ergebnissen und Interpretationen gegenüber. Als wichtige Autoren sind u. a. Ronald Inglehart, Helmut Klages, Elisabeth Noelle-Neumann und Karl-Heinz Hillmann hervorzuheben. Was die einen als zunehmende Selbstentfaltung, Autonomie und Gleichberechtigung beschreiben, stellt sich für andere Autoren als Werteverfall oder -verlust dar. Einige Untersuchungsergebnisse deuten neuerdings auf eine Wiederbelebung „traditioneller“ Werte wie Moral, Pflichtbewusstsein, „Law and Order“ sowie Fleiß hin. Ob derartige Entwicklungen auf die generelle Renaissance eines bürgerlichen Wertesystems verweisen, ist allerdings umstritten. Umstritten ist auch, ob der neuerliche Bezug auf bestimmte tradierte Wertkonventionen tiefer geht oder lediglich eine auf Teilbereiche der Gesellschaft beschränkte „Wertdekoration“ darstellt.

Insgesamt steht nach wie vor die auf viele Beobachtungen gestützte Befürchtung im Vordergrund, dass im politisch-gesellschaftlichen wie im privaten Leben viele Werthaltungen fehlen, unzureichend vorhanden sind oder einen unverbindlich-rhetorischen Charakter angenommen haben, die das Verhalten der Menschen bisher geregelt haben. In zunehmenden Maße vermisst werden Einstellungen, die unmittelbar öffentlich bedeutsam sind wie soziale Verantwortung, Sorge um die Zukunft der Gemeinschaft, Offenheit für den Mitmenschen, Redlichkeit im Umgang miteinander sowie Maßhalten im Vertreten von ideologischen Standpunkten und materiellen Interessen.

In zunehmenden Maße vermisst werden Einstellungen, die unmittelbar öffentlich bedeutsam sind.

Vor allem die politischen und wirtschaftlichen Eliten werden unter diesen Gesichtspunkten zunehmend kritisch betrachtet. Machtversessenheit vor der Wahl und Machtvergessenheit nach der Wahl (so schon Richard von Weizsäcker in seiner Zeit als Bundespräsident) etwa ist ein ebenso pointierter wie oft zitierter Vorwurf an die Adresse der politischen Parteien. Den ökonomischen Eliten wird Missbrauch wirtschaftlicher Macht, ungebremste Geldgier, „Heuschreckenmentalität“ und „Weißkragenkriminalität“ vorgehalten.

Vermisst werden aber auch Einstellungen, die der tagtäglichen Alltagspraxis zuzurechnen sind, wie Rücksichtnahme, Respekt und Höflichkeit im Umgang miteinander. Rüdes Verhalten in öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht zuletzt alten und gebrechlichen Fahrgästen gegenüber, mag ein anschauliches Demonstrationsfeld hierfür sein. „Rüpelrepublik Deutschland“ hat der Spiegel-Journalist Jörg Schindler sein Buch zur verfallenden Alltagsmoral genannt.

Auch die Freimaurer stehen im Wertediskurs. Denn die Frage nach Werten, Tugenden und moralischen Verhaltensweisen hat im Freimaurerbund eine lange, in die Zeit seiner Gründung im frühen 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition. Auch die gegenwärtige Wertproblematik ist für die Freimaurer von großer Bedeutung, und es ist eine Herausforderung für sie, den Wertewandel der Gegenwart mit ihrer Ideenwelt zu konfrontieren, nach der heutigen Relevanz ihrer Ideenwelt zu fragen und über die Tragfähigkeit ihres eigenen Beitrags zum Wertediskurs nachzudenken.

Die zunehmende Verunsicherung, ja das zunehmende Krisenbewusstsein, das als Hauptgrund für das Nachdenken über die Wertgrundlagen der Gesellschaft erkennbar ist, lässt sich auf die zahlreichen, oft grundstürzenden Veränderungen zurückführen, die kennzeichnend für die politische und gesellschaftliche Struktur der Gegenwart geworden sind.

All diese Entwicklungen erfordern rasche und nachhaltige Reaktionen von Politik und Gesellschaft.

Ich nenne nur mit Stichworten die Auflösung der festen internationalen Strukturen nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Weltsystems; die Globalisierung mit ihren vielen ungelösten Problemen und Herausforderungen; die konfliktträchtigen Mischungen von multikulturellen Gesellschaften, religiösen Fundamentalismen und internationalem Terrorismus; die mit Flüchtlingsströmen, Zuwanderung und Integration verbundenen Probleme einer unabweisbar multikulturell werdenden Gesellschaft; die Zunahme technischer Machbarkeiten: Stichworte Genmanipulation und Anwachsen der Kontrolle über den Menschen durch eine ausufernde Erfassung seiner persönlichen Daten; die Gefährdung der Stabilität von Umweltbedingungen (Stichwort: drohende Klimakatastrophe); die Zusammenhänge zwischen Finanzsystem, Wirtschaftskrise und den moralischen Grundlagen der Wirtschaft; die Auswirkungen der Internetkommunikation, Internet-Mobbing, „shitstorm“. Dazu kommt längerfristig die tiefgehende Umstrukturierung und Neuformierung der Realgesellschaft, geprägt durch Wandlungen in der Altersstruktur der Gesellschaft, die damit verbundene Gefahr einer Desintegration der Generationen; Veränderungen in der Arbeitswelt mit ihrem Hauptproblemen Langzeit-Arbeitslosigkeit und Niedriglohnsektor (Fokus: Mangel an Gerechtigkeit), die Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter zueinander; die veränderten Formen der sozialen Einbindung bzw. Vernetzung der Menschen, d.h. Wandlungen in der Struktur des „Sozialkapitals“ im Sinne einer geringeren Bereitschaft zu dauerhafter Bindung an hergebrachte bürgergesellschaftliche Gruppierungen (Beispiel: Rückgang der Mitgliedschaft in etablierten politischen Parteien in Deutschland zwischen 1990 und 2010 von 2,2 auf 1,1 Mio.).

Von großer Bedeutung sind aber auch die mentalen Veränderungen der gegenwärtigen Moderne bzw. Postmoderne, die von manchen Beobachtern gar als ein Ende der bürgerlichen Gesellschaft im traditionellen Sinne gedeutet werden: die Umschichtungen von Glaubenssystemen, Wertorientierungen und Lebensstilen im Sinne einer immer heterogeneren und unverbindlicheren „Multioptionsgesellschaft“ (Peter Gross); die Veränderung von Wahrnehmungen und Interessen im Sinne einer „Erlebnisgesellschaft“ (Gerhard Schulze), die sich auf unterhaltsame Events und wechselnde Oberflächenreize orientiert.

All diese Entwicklungen erfordern rasche und nachhaltige Reaktionen von Politik und Gesellschaft. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass die zuvor skizzierten Probleme nicht allein pragmatisch zu lösen sind. Institutionen, Verfassungen, Normen, Rechtsregeln, staatliche Interventionen – all das reicht hierzu offensichtlich nicht aus. Es ist vielmehr – national und international und insbesondere auch im europäischen Kontext – nach der Wertorientierung von Politik und Gesellschaft zu fragen, nach den „vorpolitischen moralischen Grundlagen des Gemeinwesens“, und zwar nicht im Sinne eines Vorhandenseins bloßer Wertkataloge, sondern im Sinne einer für Politik und Gesellschaft verbindlichen Wertpraxis.

Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.

Ernst-Wolfgang Böckenförde, deutscher Rechtsprofessor und von 1983 bis 1996 Richter am Bundesverfassungsgericht, hat das Problem der Gewährleistung einer integrierenden, motivierenden und verhaltensleitenden Grundlage einer modernen säkularen Gesellschaft – auf die immer wieder zitierte – sozusagen „klassisch“ gewordene – Formel gebracht:

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben …“

Damit stellt sich in der Tat die Frage nach den vorpolitischen, nach den moralischen, nach den kulturellen Grundlagen des Gemeinwesens, nach den Kräften, die in der Lage wären, die Welt diesseits und jenseits aller Normen und Institutionen auf eine stabile Weise zusammen zu halten. Es stellt sich – so kürzlich Bundespräsident Steinmeier – die Frage nach dem „Kitt, der unsere Gesellschaft im Kern zusammenhält? Und danach, ob dieser Kitt auch für die Zukunft hält.“

Es ist nun für den Freimaurer ebenso überraschend wie befriedigend festzustellen, dass sein großer Vordenker Gotthold Ephraim Lessing die „Böckenförde Formel“ in seiner Schrift „Ernst und Falk – Gespräche für Freimäurer“ um 200 Jahre vorweggenommen hat.

Lessing fasst die Überzeugung Böckenfördes, dass der freiheitliche Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er um der Freiheit Willen durch Gesetz und Rechtszwang nicht selber schaffen könne, dem Sinne nach gleich in die Worte, dass der Staat die „schrecklichen Klüfte“ zwischen Staaten, Religionen und Ständen durch Gesetzeskraft nicht einreißen könne, ohne Staat und Gesellschaft zu zerstören. Zur Überwindung der „schädlichen Trennungen“ zwischen Nationen, Religionen und sozialen Schichten bedürfe es daher eines „zusätzlichen Werkes“, eines opus supererogatum, einer Ethik des Brückenbaus, und Lessing wünscht sich, dass es die Freimaurer sind, die es „mit zu ihrem Geschäft“ machten, daran kräftig Anteil zu haben.

Ralf Dahrendorf, der im Jahre 2009 verstorbene deutsch-britische Soziologe, Politiker und Publizist von internationalem Rang, hat Zweifel an der generellen Gültigkeit der zitierten Sentenz Böckenfördes angemeldet und betont, dass unter den „Ligaturen“, wie er Formen von Bindung innerhalb der Gesellschaft und Solidarität stiftende Elemente genannt hat, möglicherweise doch auch „Institutionen der liberalen Ordnung“ eine größere Rolle spielen als von Böckenförde angenommen. Demokratische Überzeugungen können tatsächlich auch im Vollzug demokratischer Praxis, gleichsam als „Einübungsdemokratie“ entstehen. Doch ist die Präferenz für liberale Institutionen kaum vorstellbar ohne bestimmte Wertvorstellungen und motivationelle Regulierungskräfte.

Mit der Frage nach den Regulierungskräften, die den Staat tragen, seine Homogenität verbürgen und die Freiheit seiner Bürger sichern, und „deren er bedarf, nachdem die Bindungskraft aus der Religion für ihn nicht mehr essentiell ist und sein kann“ (Böckenförde), ist die Frage nach der Wirkungskraft von gesellschaftlichen Werten in einer säkularisierten Gesellschaft gestellt, die nicht mehr allein und nicht mehr vorrangig religiös bestimmt sind. Allgemeiner gefasste, doch nicht weniger verbindliche Werte müssen dann zu den grundlegenden, zentralen Zielvorstellungen und Orientierungsmaßstäbe für das individuelle menschliche Handeln und für das soziale Zusammenleben werden. „Werte sind unbedingte Vorrangregeln mit moralischer Qualität“ – dies das Wort Udo di Fabios, wie Böckenförde Rechtsprofessor und Bundesverfassungsrichter. Werte bedeuten, so einmal nüchtern-kategorisch von Niklas Luhmann formuliert, „Höchstrelevanz mit normativem Gehalt“.

Werte haben sowohl eine individuell-persönliche als auch eine kollektiv-gesellschaftliche Dimension.

In individueller Hinsicht bestimmen Werte Selbstverständnis, Selbstbewusstsein und Selbstachtung jedes einzelnen Menschen: Menschen definieren sich im Hinblick auf die Werte, zu denen sie sich bekennen und für die sie einstehen. In sozialer Hinsicht orientieren sich Gruppen und Gesellschaft an Werten. Von ihrer Wertbasis her wird bestimmt, wie sich eine Gesellschaft selbst versteht, welche Grundprinzipien für ihre Gestaltung bestimmend, welche Elemente von „Leitkultur“ für sie gültig sein sollen.

Woher stammen europäische Werte? Wie und durch wen können sie dem überwiegend rhetorischen Charakter entgehen, der ihnen oft anhaftet, und als Handlungsgrundlage verbindlich werden? Und welche Rolle spielt dabei ein Bewusstsein, das man ein „bürgerliches“ nennen kann?

Die Werte, die als ideelle Grundlagen der deutschen wie jeder modernen europäischen Gesellschaft dienen können, entstammen den großen Werterzählungen der Aufklärungszeit, die ja europäische und nicht zuletzt auch freimaurerische Werterzählungen gewesen sind. „Vor allem im Milieu des damals entstehenden Bürgertums“ – so erläutert der Berliner Historiker Jürgen Kocka – „entwickelten sich (im späten 18. Jahrhundert) moderne, durch die Aufklärung geprägte Ideen, Ideen von einer neuen Gesellschaft, Kultur und Politik: das Programm einer ‚bürgerlichen Gesellschaft’. Es wurde in den bürgerlich geprägten Assoziationen und Lesegesellschaften, in den Vereinen und Zeitschriften des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts diskutiert, bald auch auf öffentlichen Versammlungen und Festen der sich ausbreitenden liberalen Bewegung“.

Eine besondere Rolle dabei spielten auch die Logen der Freimaurer. Die Logen schließen „Privatleute zum Publikum“ zusammen, und sie antizipieren Öffentlichkeit, wenn auch noch weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit, – so Jürgen Habermas in seiner Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Reinhart Koselleck beschrieb die Loge als das „stärkste Sozialinstitut der moralischen Welt im achtzehnten Jahrhundert“ und hob ihre Wirkung mit den vielzitierten Worten hervor: „Die Freiheit im Geheimen“ – d.h. die Freiheit im geschützten Milieu der Loge – „wird zum Geheimnis der Freiheit“, d.h. der zukünftigen politisch-gesellschaftlichen Freiheit in Europa. Es war ein zukunftsgerichteter Entwurf, zu dem sehr verschiedene Autoren beigetragen hatten – von John Locke und Adam Smith über Montesquieu und die Enzyklopädisten bis zu Immanuel Kant und Gotthold Ephraim Lessing.

Freimaurerei entstand als eine Bewegung des Aufbruchs und der Hoffnung.

In der Tat: Die Werte, die als ideelle Grundlagen der modernen Gesellschaft, dienen können, entstammen den großen Werterzählungen der Aufklärungszeit, die ja auch und nicht zuletzt freimaurerische Werterzählungen gewesen sind. Freimaurerei entstand als eine Bewegung des Aufbruchs und der Hoffnung. Darauf beruhte ihre Aktualität, ja ihr Charakter als „Mode eines Jahrhunderts“ – wie Friedrich der Große, preußischer König und Freimaurer, – sie gekennzeichnet hat. Und in der Tat, kaum eine Gesellschaftsgruppe ist so reich an Entwürfen der Hoffnung wie die Freimaurerei. Es war die Hoffnung auf Aufklärung, auf „Unterscheidungsfähigkeit zwischen Hell und Dunkel, Licht und Finsternis“ (so die Definition des Weimarer Freimaurers Christoph Martin Wieland), es war die Erwartung einer durch Offenheit und Freiheit geprägten politisch-sozialen Zukunft, und es war das Erlebnis menschlicher Gleichheit jenseits aller Schranken von Stand, Nation und Bekenntnis, was Bewusstsein und Gefühl der Gründer des Freimaurerbundes geprägt hat. Es war die Freude über eine neue Entdeckung des Menschen, und es waren immer wieder diese neuentdeckten Menschen selbst, die im Zentrum von Freimaurerei und Loge standen, es war das Bekenntnis zur Humanität als Inbegriff von „Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechten, Menschenpflichten, Menschenwürde und Menschenliebe“, wie der Freimaurer Johann Gottfried Herder sie mit dieser Reihung fast schon hymnisch bestimmt. Nicht um den Mensch als Träger nationaler, sozialer und religiöser Rollen ging es dabei, auch nicht um die Gattung Mensch in einem allgemeinen Sinn. Um den Einzelmenschen war es zu tun: Der Einzelmensch stand – und steht bis heute – im Mittelpunkt der maurerischen Initiation, der feierlichen Aufnahme des Freimaurers in den Bund, und der Einzelmensch bildete und blieb auch das Zentrum der freimaurerischen Idee. „Er ist Prinz“ gibt der skeptische Priester vor Taminos Aufnahme in Mozarts Freimaureroper „Die Zauberflöte“ zu bedenken. Doch Sarastro wischt die Bedenken fort: „Noch mehr, er ist Mensch“, und Lessings Nathan wünscht: „Ah, wenn ich einen mehr in Euch gefunden hätte, dem es genügt, ein Mensch zu sein“.

Die politisch-soziale Systematik zum Vorrang des Einzelmenschen findet sich dann in Lessings bereits zitierter programmatischer Freimaurerschrift „Ernst und Falk“ aus den Jahren 1778/1780: „Die Staaten“ – so heißt es dort – „vereinigen die Menschen, damit durch diese und in dieser Vereinigung jeder einzelne Mensch seinen Teil von Glückseligkeit desto besser und sichrer genießen könne. Das Totale der einzelnen Glückseligkeiten aller Glieder ist die Glückseligkeit des Staats. Außer dieser gibt es gar keine. Jede andere Glückseligkeit des Staats, bei welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden und leiden müssen, ist Bemäntelung der Tyrannei. Anders nichts!“ Und an einer anderen Stelle von „Ernst und Falk“ heißt es scharf anti-ideologisch pointierend, daß die Natur nicht „die Glückseligkeit eines abgezogenen Begriffs – wie Staat, Vaterland und dergleichen zur Absicht gehabt hätte, sondern die Glückseligkeit jedes wirklichen einzelnen Wesens“.

Das Recht auf Verfolgung dieser Glückseligkeit hatten kurz zuvor die amerikanischen Freimaurer um George Washington als Grundrecht in die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten geschrieben: „All men are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“

Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechten, Menschenpflichten, Menschenwürde und Menschenliebe

Wie aber können solche Einstellungen zur Grundlage politischer und gesellschaftlicher Praxis werden? Wie lassen sie sich im Habitus des Bürgers verankern, der ja nur durch eine solche Verankerung zum selbst- und wertbewussten Bürger wird? Gewiss nicht durch eine bloße Wertrhetorik, die eher abstößt und Verdruss bereitet, wohl aber durch eine Praxis bürgerlicher Wertaneignung und Wertumsetzung.

Hierzu drei Überlegungen zum Schluss. Erstens: Zur Praxis bürgerlicher Wertaneignung gehört ein komplexes und schwieriges Verständigungsprogramm, denn es gibt viele Fragen die nach Antwort verlangen: Welche Werte sollen gelten? Wie verhalten sich die einzelnen Werte zu einander, Freiheit und Gleichheit etwa? Auf welche Weise sind Werte ganz konkret und gesetzestechnisch in Institutionenbildung und Politik umzusetzen? Was sind die zweckmäßigen pädagogischen Programme, um – insbesondere bei jungen Menschen – Wertbewusstsein zu wecken und habituell zu verankern? Ethikunterricht etwa oder Pro-Religion?

Eine solche Prüfung, Befragung und Konkretisierung von Werten setzt die Anerkennung der Pluralität von Auffassungen sowie einen toleranten, redlichen Diskurs voraus. Dabei geht es nicht nur um Werte, es geht auch um Einsicht in die Strukturen der realen Welt, die immer unübersichtlicher werden, und die es schwierig machen, für politische und gesellschaftliche Herausforderungen Lösungen zu finden, die nicht nur den Werten entsprechen, auf die man sich beruft, sondern bei denen auch das erforderliche Maß an Praktikabilität und Alltagsvernunft nicht zu kurz kommt.

Zweitens: So wichtig eine Verständigung über heutige Realitäten ist, die notwendige Tiefe gewinnt dieser Diskurs doch nur, wenn er sich mit Erinnerungskultur und historischer Reflexion verbindet. Die europäischen Bürgerkriege des 19. und 20. Jahrhunderts haben ja dem Europa der Aufklärung im Sinne einer den europäischen Eliten gemeinsamen Lebens- und Denkweise ein Ende gesetzt. An diese gemeinsame Lebens- und Denkweise hätte das heutige Europa wieder anzuknüpfen. Um aber an gemeinsame Vergangenheiten anknüpfen zu können, müssen die Europäer der Gegenwart – so hat es der lange in Princeton und seit 2007 in Harvard lehrende Historiker Robert Darnton einmal formuliert – „einen Salto rückwärts über das 19. und 20. Jahrhundert springen und sich von neuem mit der europäischen Dimension des Lebens im Zeitalter der Aufklärung auseinander setzen. Nicht, dass irgendwer das 18. Jahrhundert wieder aufleben lassen wollte – lebte doch damals die große Mehrheit der Europäer im Elend und war doch die Aufklärung selbst eine komplexe Bewegung voller Widersprüche und Gegenströmungen.“ Doch sie ist „vergangene Hoffnung“ (Horkheimer/Adorno), sie ist der Ursprung jener die Werte, „die heute das Herzstück der Europäischen Gemeinschaft ausmachen, und das in einer Form, die eine wirkliche, zukunftsträchtige Alternative zum Nationalismus ermöglicht“.

Europäische Werte müssen heutzutage offen sein für tolerante Begegnungen mit den Werten anderer Kulturen

Freilich müssen europäische Werte heutzutage offen sein für tolerante Begegnungen mit den Werten anderer Kulturen, wenn sie auch ihren Kern bei diesen Begegnungen zu bewahren haben. Nicht aus Prinzip und Überheblichkeit, sondern deshalb, weil sie sich als Grundlage einer freien Gesellschaft ganz pragmatisch bewährt haben.

Drittens schließlich ist bürgerliches Handeln vonnöten. Es kommt auf eine Teilhabe am Leben der Gesellschaft an, die nicht exklusiv ist im Sinne eines Ausschlusses anderer und die nicht daherkommt als eine „Bürgerlichkeit der feinen Leute“, sondern die als eine „Bürgerlichkeit der Einbeziehung aller“ wirkt, als eine Bürgerlichkeit der sozialen Offenheit, als eine Bürgerlichkeit, die andere mitnimmt und die auch die weniger Privilegierten in das gesellschaftliche Ganze einschließt. Insofern darf Eintreten für „Bürgerlichkeit“ auch in keiner Weise als Gegensatz zum Sozialstaat gesehen werden, dessen Notwendigkeit unbestritten bleibt.

Eine Einstellung bewusster, wertorientierter Bürgerlichkeit erfordert nicht zuletzt eine Mitwirkung in den vielen Gruppierungen der Bürgergesellschaft, – von den Familien über die Parteien, die Bürgerinitiativen, die Vereine, die Kindergärten und Schulen bis hin zum Hospiz und zur Altenbetreuung – d.h. eine Mitwirkung in den zahlreichen vom Staat unabhängigen Initiativen und Assoziationen, deren Aktivitäten und deren Vernetzung allein eine humane Gesellschaft ermöglicht. Dabei ist die Vernetzung bürgergesellschaftlichen Engagements über die nationalen Grenzen hinaus besonders wichtig für die Zukunft Europas.

„Die simultane Eröffnung von Baustellen der Bürgerschaft“ – so der französische Philosoph Étienne Balibar in seiner lesenswerten Essay-Sammlung „Sind wir Bürger Europas?“ – „ist die konkrete Voraussetzung, damit der öffentliche Raum wieder zum Raum des Bürgers wird. Deshalb ist die Frage einer europäischen Öffentlichkeit (die praktisch immer noch nicht existent, aber gleichwohl ‚latent’ vorhanden ist) so wichtig … Ohne eine solche Öffentlichkeit ist in dem geschichtlichen Raum, in den wir nun eingetreten sind, an ‚aktive Bürgerschaft’ nicht zu denken … Wenn Europa (das heißt die wirklichen Europäer, die ‚Einwohner’ Europas) die Triebkraft der politischen Aktion auf diese Weise umverlagern kann, wird es zweifellos nicht das sich selbst genügende ‚Ganze’ sein, das die Verträge und Gipfel verkünden. Es könnte aber – als der Name eines künftigen Volkes – durchaus ‚etwas’ werden“.

Man kann die Freimaurerei als Bund definieren, der sich um ethische Orientierungen herum entwickelt hat und in dem der Wertediskurs von Anbeginn an eine zentrale Rolle spielte.

Wie kaum eine andere Assoziation stehen die Freimaurer in der Geschichte europäischer Wertentwicklung und in der Tradition europäischen Bürgerbewusstsein. Die Frage nach Werten, Tugenden und moralischen Verhaltensweisen hat im Freimaurerbund eine lange, in die Zeit seiner Gründung im frühen 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition. Ja, man kann die Freimaurerei geradezu als Bund definieren, der sich um ethische Orientierungen herum entwickelt hat und in dem der Wertediskurs von Anbeginn an eine zentrale Rolle spielte. „A peculiar system of morality“ („ein eigentümliches System der Moralität“ – eigentümlich aufgrund der mit ihm verbundenen symbolisch-rituellen Lehrmethode) – so haben die englischen Freimaurer schon früh ihren Bund genannt.

Mit fünf Feststellungen lassen sich die Zusammenhänge zwischen Freimaurerei, Wertediskurs und Wertepraxis umreißen: 1. Freimaurer sind aufgrund ihrer Tradition mit der Entwicklung ethischer Werte verbunden und aufgrund dieser Tradition auch an der Umsetzung von Werten in der Lebenspraxis der Gegenwart interessiert. Werterziehung gehört daher zu den wichtigsten Aufgaben der Loge. 2. Freimaurer gehen davon aus, dass Werterziehung scheitern muss, wenn sie nicht im Verhalten der einzelnen Menschen innerhalb der Gesellschaft eingeübt und verankert wird. Deshalb versteht sich die Ethik der Freimaurer in erster Linie als eine Ethik der Einübung (Klaus Hammacher). 3. Freimaurer sind der Auffassung, dass die Gruppe das leistungsfähigste Medium der Werterziehung und der Einübung wertbezogener Verhaltensweisen ist. Dies gilt für die Familie, den Kindergarten, die Schule und die Kirchengruppe ebenso wie für die Logen der Freimaurer. 4. Freimaurer sind davon überzeugt, dass in der Freimaurerei geeignete Methoden zur Einübung von Werten vorhanden sind, und sie sehen diese in der sozialen, der diskursethischen und der rituellen Praxis der Loge. 5. Freimaurer wissen, dass sie in der Praxis der Einübung und der alltäglichen Umsetzung von Werten immer wieder scheitern können und sie haben dafür ein anschauliches Symbol, den rauen, unbehauenen Stein des eigenen Selbst, den sie immer wieder bearbeiten müssen.

Freimaurerei war zuerst eine europäische Bewegung, eine Bewegung engagierter europäischer Bürger, bevor sie im 19. und im frühen 20. Jahrhundert – nicht zu ihrem Vorteil und nicht zum Vorteil Europas – nationalstaatlichen Charakter annahm, in Deutschland teilweise gar völkisch wurde, und sich zugleich einer lähmenden Innerlichkeit verschrieb.

Deshalb sind auch die Freimaurer aufgefordert, erneut über ihre Identität nachzudenken und ihr Selbstverständnis sowie ihr Handeln an ihren besten, ihren europäischen Traditionen auszurichten. Dieser europäische Dimension hätten sich die Freimaurer – über die bloß repräsentative und gesellige Begegnung hinaus – gegenwärtig verstärkt zu stellen und sich wahrnehmbarer als bisher einzuordnen in die Reihe derer, denen Europa mit seiner Kultur und mit der Tradition seiner Werte als Heimat der Menschen unseres Kontinents am Herzen liegt.“