Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (AFuAMvD)

Wie stehen wir zu unseren Pflichten?

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Wie stehen wir zu unseren Pflichten?

Von Ulrich Cichy

Eine moderne Präambel für ein altes Gesetz

Die Freimaurerei ist von zwei grundlegenden Gegensätzen geprägt, die sich immer wieder in der Diskussion um unsere Identität und unsere „Future“ spiegeln. Der eine ist der zwischen der Aufklärung und der Esoterik: Die Freimaurerei der vier Logen von London und Westminster um 1717 wurde wegen der Erfahrung der gewalttätigen Auseinandersetzungen um Politik und Religion sowie entsprechend der englischen Frühaufklärung deistisch und in aufklärerischer Perspektive geformt. Nicht zuletzt die Romantik, die Stärkung explizit christlicher Perspektiven und der Einfluss der Rittermaurerei förderten dann im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts eine eher esoterische Freimaurerei. Beide Welten tragen wir in einem ambivalenten Verhältnis bis heute in uns fort: Zwischen Aufklärung und Geheimnis.

Der andere Gegensatz betrifft unsere Haltung zur Politik. Die junge Großloge wusste vor dem historischen Hintergrund in England, warum sie sich aus der Perspektive eines Common Sense, eines gemeinsamen gesunden Menschenverstands, zu einem politisch streitfreien Raum erklärte (auch wenn sie dann schnell wieder den gehörigen Abstand zu den Streitereien im politischen Raum verlor). Aber der Aufruf des Rituals: „… bewährt Euch als Freimaurer! Wehret dem Unrecht, wo es sich zeigt!“, ist eine höchst politische Aufforderung an den einzelnen Maurer, gestaltend an unserer Gesellschaft teilzunehmen, die im Widerspruch zu den „Alten Pflichten“ bzw. zur politikfreien Selbstwahrnehmung zu stehen scheint: Zwischen politischer Abstinenz und aktiver Gestaltung der Welt.

„Alte Pflichten“ vs. Zeitgeist

Der letztgenannte Gegensatz schlägt sich gegenwärtig in der Diskussion um die „Alten Pflichten“ nieder, die zwar von der Toleranz im politischen und religiösen Sinne unter den Brüdern Freimaurer geprägt sind, aber von einer Toleranz gegenüber und unter allen Menschen wenig atmen. Eher das Gegenteil ist der Fall: Dem Zeitgeist und teilweise wohl auch den Erfordernissen des noch konkret operativen Handwerks entsprechend wurden Menschen „niederer Geburt“, Frauen, Behinderte etc. aus den toleranten Regelungen für Maurer ausgeschlossen. Deshalb scheinen viele Passagen der „Alten Pflichten“ als anachronistisch, im Widerspruch zu unserer Zeit und ihren Werten zu stehen. Das kann einem humanitär geprägten Freimaurer durchaus die positive Haltung zu den „Alten Pflichten“ nehmen. Wobei – nach der Wahrnehmung des Verfassers – hier aber nur ein kleiner Teil der Brüder ein ernsthaftes Problem sieht, da die Erwartungen der meisten sich im Wesentlichen an der rituellen Vertiefung und der brüderlichen Gemeinschaft zu orientieren scheinen. Vielleicht sollte man einmal eine empirische Erhebung zu den Erwartungen der Brüder an die Freimaurerei machen?

Gleichwohl werden „Neue Pflichten“ gefordert und als Referenzen dafür z.B. die Überlegungen zum „Weltethos“, die „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“ oder die „Agenda 2030“ für nachhaltige Entwicklung genannt. Diese Papiere gehen jedoch weit über das (interne) Toleranzgebot der Freimaurer hinaus. Es wird zwar auch allgemein (und in gewisser Weise unverbindlich) gefordert, sich der goldenen Regel anzuschließen: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu.“ Hier dürfte es für einen Freimaurer kein Problem geben. Aber was ist mit den konkreten Weisungen und Leitsätzen wie der „Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung“? Oder der „Verpflichtung auf eine Kultur der Nachhaltigkeit und der Sorge für die Erde“ (Weltethos)? Oder mit der Forderung: „Alles Eigentum und aller Reichtum muss in Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit und zum Fortschritt der Menschen verantwortungsvoll verwendet werden“ (Allgemeine Erklärung)?

Die Diskussionskultur in den Logen stärken

„Wer die Lippen spitzt, muss auch pfeifen“, sagt der Volksmund. Wer sich derartige Pflichten auferlegt, muss auch handeln. Diese Forderung könnte zudem aus den Medien und der politischen Öffentlichkeit kommen. Soll die Freimaurerei deshalb nun Stellung für eine bestimmte Wirtschaftsordnung, für konkrete umweltpolitische Rahmensetzungen und (Um-)Verteilungsregeln beziehen?

Die Freimaurerei lebt in einer politischen Welt. Und deshalb ist es auch wichtig, dass sie wahrnimmt, dass sie selbst und die Gesellschaft gegenwärtig mehr durch den rechten als durch den linken, ökologischen, islamistischen und sonstigen Populismus bedroht wird. Aber die Diskussion um den Artikel „Der Feind steht rechts“ in dieser Zeitschrift hat schon gezeigt, wie schnell sich die Gemüter erhitzen. Sollte die Freimaurerei nun noch in die tagespolitische Diskussion um Wirtschaftsordnung, Umweltschutz und Umverteilung eintreten, um zu diesen Themen in das Weltgeschehen einzugreifen? Bei der großen Meinungsbreite der Brüder würde das möglicherweise zunächst zu einer großen internen Belastung führen, weil sich in unserer Gemeinschaft das Spektrum der Gesellschaft spiegelt und eine Konsensfindung nur minimal oder unter Ausgrenzung einzelner Positionen erfolgen könnte. Und nach außen würde die Freimaurerei Partei, weil sie sich für alle Brüder in ein bestimmtes Meinungsspektrum einordnete.

Das ist kein Plädoyer für eine unpolitische Freimauerei – eher das Gegenteil: Es wäre wünschenswert, wenn es in den Logen noch mehr politische Diskussionskultur (Leipertz) gäbe, damit die Brüder („Die Steine sind die Menschen“) noch qualifizierter in der Gesellschaft Stellung beziehen könnten. Es sind die Brüder, die mit ihrer humanitären Gesinnung im Wettbewerb der Meinungen von ihrem Verantwortungsbereich aus zu den besten Lösungen beitragen. Außerdem hat die Freimaurerei die Möglichkeit, sich u.a. mit ihren vielfältigen Preisen (z. B. dem Kulturpreis der deutschen Freimaurer) für gesellschaftliche Belange stark zu machen, weil sie einen aktiven Menschen (nochmals: „Die Steine sind die Menschen“) für seinen außerordentlichen Einsatz ehrt.

Freimaurerei als gesellschaftliches Forum

Wir leben (glücklicherweise) in einer pluralistischen Gesellschaft, die sich (leider) immer mehr in hedonistische Singularitäten (Reckwitz) aufspaltet. Da wir im Gegensatz zu den Serviceclubs und wohl den meisten Vereinen Menschen aus allen Gesellschaftsbereichen aufnehmen (Bedingung: Sofern sie sich zum Freimaurer eignen) sind wir ein Stück weit ein Spiegel der pluralistischen Gesellschaft. Und genau hier sollten wir ansetzen: Auf der Grundlage des Toleranzgebots der „Alten Pflichten“ die politische Sensibilisierung und den Diskurs in unserer Gesellschaft mit vorantreiben, indem wir die Repräsentanten gesellschaftlicher Strömungen zusammenführen. Es wäre ein dritter Weg zwischen politischer Abstinenz und politischem Engagement. Hier sei erneut das Stichwort Loge als Forum genannt, wonach man Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Strömungen im freimaurerischen Sinne zum strukturierten öffentlichen Gespräch einlädt. Das lässt sich von der Ebene der Großloge bis hin zu jeder einzelnen Loge, von den großen Themen der Welt bis hin zum lokalen Umweltschutz verwirklichen. Und mit der medialen Verbreitung der Ergebnisse erhielte die Freimaurerei möglicherweise mehr Resonanz, als wenn sie sich für einzelne politische Positionen starkmachen würde.

Aber was bedeutet das für die Diskussion um die „Alten Pflichten“? Als Freimaurer ist man angehalten, positiv zu erwarten, dass die Diskussion zu „Neuen Pflichten“ führt, die den Gegensatz zwischen der politischen-religiösen Neutralität und dem konkreten humanen Einsatz für diese Welt in harmonischer Weise ausgleichen. Und dass die Ergebnisse auch Zustimmung in den nationalen und internationalen freimaurerischen Strukturen finden. Für den Fall aber, dass das nicht bzw. nicht in absehbarer Zeit gelingt, hier der Vorschlag, den „Alten Pflichten“ fortan eine Präambel wie die folgende vorauszustellen. Sie versucht in Form einer interpretierenden Methode den zeitlos humanen Kern der „Alten Pflichten“ auch für unsere Gegenwart zu verdeutlichen.
Vorschlag für eine Präambel:

Alte Pflichten und neue Zeit

Die „Alten Pflichten“ von 1723 sind zunächst aus ihrer Spiegelung der damaligen Zeit heraus zu verstehen: Religiöser und politischer Unfrieden im Umfeld der geistigen Emanzipation der englischen Frühaufklärung. Entsprechend der englischen Gesellschaft suchte hier die junge Großloge von London pragmatisch einen Common Sense im Sinne eines allgemeinen gesunden Menschenverstands für eine befriedete Gemeinschaft. Sie formulierte ein Grundgesetz, das im Übergang von der klassischen Steinmetzzunft zur modernen symbolischen Freimaurerei die Grundlage für ein friedliches und gesittetes Miteinander in der Logengemeinschaft legte. In Neutralität zu Politik und Religion wurde die gegenseitige Toleranz der Mitglieder als Grundbedingung der Gemeinschaft verankert. In diesem Sinne sind die „Alten Pflichten“ „modern“, denn sie greifen damit vielen späteren Forderungen zu einer grundlegenden Menschenfreiheit voraus.

Das Toleranzgebot wurde eine wesentliche Grundlage der Ausbildung einer weltumspannenden humanitären Freimaurerei, die ihre Mitglieder (Brüder eines Bruderbunds) verpflichtet, in ihrer Gemeinschaft Toleranz im Sinne der Brüderlichkeit zu leben.

Gleichwohl können die „Alten Pflichten“ aus heutiger Perspektive als zu eng ausgelegt werden: So gibt es über den eigenen freimaurerischen Regelungsbereich hinaus keinen Hinweis auf die Anerkennung universeller Menschenrechte, enthalten ist dagegen noch die Diskriminierung einzelner gesellschaftlicher Gruppen. Und sie sind in gewisser Weise anthropozentrisch, da sie heutige Gegenwartsfragen wie den Umwelt- und Klimaschutz nicht berücksichtigen.

Aber was zählt, ist der Geist der „Alten Pflichten“: Der Respekt vor der Haltung und den Lebensperspektiven anderer Menschen. Denn letztlich müssen sich alle Regelungen für menschliche Gemeinschaften daran messen lassen, wie sie sich zur Haltung und zu den Lebensperspektiven der Menschen stellen – beispielsweise hinsichtlich der Freiheit und der freien Entfaltung aller Menschen, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der nachhaltigen Entwicklung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. In diesem Sinne ist der nachfolgende Text der „Alten Pflichten“ in einer universellen Perspektive zu verstehen: So, wie ein Bruder vom anderen und damit grundsätzlich von jedem Menschen die Toleranz hinsichtlich seiner religiösen und politischen Haltung sowie seiner Lebensverhältnisse erwarten darf, so gilt dies heute aus freimaurerischer Perspektive für jeden Menschen, unter anderem hinsichtlich seines Geschlechts, seiner Herkunft, bezüglich seines (Über-)Lebens in einer bedrohten Umwelt. In diesem Sinne steht das freimaurerische Verständnis der „Alten Pflichten“ heute auf dem Boden beispielsweise der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen. Ohne diese umfassende Perspektive wäre keine humanitäre Freimaurerei in der Gegenwart möglich.

Ergänzung: In der letzten Zeit erhielt ich von einigen Brüdern positive Resonanz auf das Konzept „Loge als Forum“; manche setzen einen ähnlichen Ansatz bereits auf ihre Weise um. Das regt dazu an, den Gedanken in einem größeren Kreis fortzuentwickeln. Wer Interesse an einer Mitwirkung hat, sollte mich bitte ansprechen: ulrich.cichy@t-online.de. Danke!

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 6-2020 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.