Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (AFuAMvD)

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Zur Verteidigung des Politischen in den Logen

Ich beziehe mich auf den Artikel „Schwierigkeiten mit dem Tempel der Humanität“ von Br. Thomas Harting, erschienen in der „Humanität“ Nr. 3/2020.

Gelesen von Arne Heger

Foto: © spaxlax / Adobe Stock

In diesem Artikel stellt der Autor seine ambitionierte Position zu politischen Äußerungen in Logen zur Diskussion. An den Begriffen Menschenliebe und der Toleranz spannt er auf, wie er sich das Sprechen über Politik in Logen vorstellt. Ich möchte in der kritischen Betrachtung seines Beitrags meine Position zu politischen Diskussionen in unseren Logen aufspannen. Meine Kritik hebt im Weiterdenken der von Br. Thomas entworfenen Denkansätze an, um inhaltliche Konsequenzen und Argumentationsmuster evident werden zu lassen, die diesen folgen können.

Politik aus den Logen fernhalten

Allgemeinhin gilt der Grundsatz, Diskussionen zur Alltagspolitik aus den Logen fernzuhalten, das schreibt etwa Altgroßmeister Br. Jens Oberheide in seinem Heft „Freimaurerei – Ein Lebensstil“. Doch ist das heute noch zeitgemäß und wünschenswert? Die „Alten Pflichten“ wurden ja ohne das Wissen über Stalin, Hitler, Mussolini, Idi Amin und andere moderne Verbrecher im staatsmännischen Gewand geschrieben. Br. Thomas‘ Auffassung folgend, darf ich in meiner Loge politisch aktiv werden, wenn ich zum Beispiel rassistische Äußerungen vernehme oder eine grundsätzliche Ausgrenzung extremer politischer Meinungsbilder ansteht. Hätte mich ein Bruder in der Zeit der Pandemie allerdings gefragt, ob ich mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, hätte ich meine Meinung zu den politischen Verhältnissen und der Adäquanz angewandter politischer Maßnahmen nicht kundtun dürfen, da ich mich alltagspolitisch geäußert hätte. Dies ist aber ein politischer Maulkorb, der sich in unserer modernen pluralistischen, freiheitlich demokratischen Gesellschaft nicht mehr aufrechterhalten lässt.Zuvorderst sollen wir für Menschenliebe und Toleranz eintreten, da es hier nicht um Politik, sondern um praktische Ethik geht, fordert der Autor von uns. Das ist aber nicht so einfach, denn bei der Ausgrenzung politischer Extreme wird er selbst politisch. Auch dies verwundert nicht, denn grundsätzlich ist die praktische Ethik, die den Menschen als gesellschaftliches Wesen impliziert, in den Rahmen von ethischen Konzeptionen gestellt, nämlich Konzeptionen des Guten, d.h. im Klartext, dass es sich um Konzeptionen des Politischen handelt. Ethik ohne Politik ist also gar nicht möglich. In seinem Freimaurer-Knigge stellt er fest, dass Freimaurer politisch aktiv sein dürfen, solange sie sich für Überzeugungen einsetzen, die nicht gegen die freimaurerischen Tugenden der Menschenliebe und der Toleranz verstoßen. Das steht zwar konträr zum oben erwähnten Äußerungsverbot politischer Themen in den Logen, aber klären wir zunächst, was er darunter versteht.

Menschenliebe und Gewalt

Menschenliebe ist nach seiner Auffassung die Liebe zum Menschen an sich. Aber wie konkretisiert man diese? Hier argumentiert er mit dem Kategorischen Imperativ. In seiner utilitaristischen Lesart stellt er das, was dem Wohl der Menschheit dient, als Menschenliebe heraus, und in seiner zweiten, behavioristischen Lesart zwängt er diese durch die monolineare Verbindung von Denken und Handeln in ein gedankenpolizeiliches Korsett, indem Handeln aus Denken erfolgen muss. Seine Erklärung dessen, was Menschenliebe ist, bleibt in seiner utilitaristischen Lesart des Kategorischen Imperativs stecken. Dafür erläutert er uns sein Verständnis von dem, was nicht der Menschenliebe zuträglich ist. Er definiert das, was er definieren will, über das, was er ausschließen will: „Auffassungen, die zur Gewalt gegen Personen und Gegenstände zur Durchsetzung ihrer (politischen) Ziele aufrufen und das Eintreten für Gruppierungen, die den Staat zersetzen wollen.“

Die Schwierigkeit bei einer solchen Argumentation bleibt die Indifferenz zu der liberalen politischen Theorie, die Gewalt gegen jene, die die demokratische Grundordnung zerstören, als legitim annimmt, weil sie eine faktische Bedrohung für die Freiheit und damit für die Menschenliebe und Toleranz darstellen. Da Br. Thomas aber Verfassung und Staat als Einheit darstellt, entgeht ihm die Möglichkeit, die die Väter und Mütter des Grundgesetzes sahen, als sie den Artikel 20, Absatz 4, verfassten, dass neben einzelnen und einer Gruppierung das politische System selbst zum Feind der Freiheit werden kann. Und mehr noch! Diese Gefahr kann sogar aus einem demokratisch verfassten Staat drohen. Dann und nur dann ist auch der Tyrannentod billigend in Kauf zu nehmen, wenn das Joch der Unterdrückung nicht anders abzuwenden ist. Deshalb ist der Absatz 4 so offen formuliert: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Br. Thomas kann uns selbst eine Bestätigung einer solchen Ansicht geben, wenn man sich sein in Wert gesetztes Prinzip ubiquitären, transzendentalen politischen Handelns nach Watzlawicks Art in der rhetorischen Figur einer doppelten Verneinung vergegenwärtigt: „Man kann nicht nicht politisch handeln. Selbst wenn man nicht handelt, handelt man politisch.“ Ein konsequentes Handeln gegen Tyrannen und Despoten als freimaurerische Pflicht anzunehmen, wird damit optional, weil wir nicht menschenlieb sind, wenn wir passiv bleiben und nichts gegen eine menschenverachtende, den demokratischen Staat zersetzende Einzelperson oder ein ganzes Regime unternehmen. Auch wenn Gewaltanwendung verpönt bleiben soll, kann die Gegenrede geradezu erforderlich werden.

Gedankenkontrolle à la Orwell

In seiner Argumentation erweckt der Autor den Anschein, als würden wir bereits in der Idealgesellschaft leben. Damit übertrumpft er die Adepten von Marx, die, wie Dahrendorf konstatierte, ihre Gesellschaften bekanntlich immer auf dem Weg dorthin sahen. Mit seiner behavioristischen Lesart des Kategorischen Imperativs, in der er Denken und Handeln monolinear verbindet, kann man autoritäre Züge nicht verkennen, die er so gerne von sich weist. Denn schon das Denken an staatszersetzende Aktivitäten wird nach seiner Lesart als erster Schritt eines entsprechenden politischen Handelns gewertet. Alleine das vermutete Denken ist ein Verweis auf staatszersetzendes Handeln. Wehe dem, der in seinem Handeln erkennen lässt, dass er Kritik am politischen System übt. Er könnte in den Verdacht staatszersetzender Kritik geraten. Also, wenn ich gedenke, meinem Bruder auf die eingangs gestellte Frage die Antwort zu geben, dass ich große Schwierigkeiten unter den politischen Maßnahmen des Lockdowns hatte und die Bundesregierung den Eindruck erweckte, als würde sie ohne Legitimation des deutschen Volkes handeln, würde ich mich nach seiner Auffassung schon einer staatszersetzenden Meinung schuldig machen, die zum Umsturz politischer Verhältnisse führen kann. Orwell lässt grüßen. Nach dieser Lesart könnte man auch Kripobeamte nicht mehr ausbilden, da sie immer dazu neigen könnten, als Verbrecher tätig zu werden.

Für Bruder Thomas sind ein friedliches Miteinander fördernde Überzeugungen Garanten der Menschenliebe. Das klingt gut, ist aber problematisch. Denn, wenn ein Tyrann oder ein tyrannisches System das Leben von Menschen einschränkt und bedroht, so zeigt die eigene Geschichte, gibt es keine andere Möglichkeit, als diesen und dieses mit Gewalt zu beseitigen. Menschenliebe wird hier durch aggressives Handeln gesichert, sodass, was in der modernen Psychologie bereits als Faktum gilt, aggressives Verhalten zugleich prosozial sein kann. Das drückt sich auch im zitierten Artikel 20, Absatz 4, aus. Einen Tyrannen wird man eben nicht durch schöngeistige Übungen zum Selbst oder zur Person aus Amt und Würden entfernen können. In der amerikanischen und französischen Freimaurerei hat das seinen Niederschlag gefunden, wie sich u.a. in Marco Carinis „Freimaurer – Die geheime Gesellschaft“ nachlesen lässt.

Politische Extreme

Man kann sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass Br. Thomas selbst nicht glaubt, was er schreibt, wenn er, an Watzlawick orientiert, implementiert, dass man grundsätzlich politisch ist, auch wenn man nicht politisch handelt. In den Logen hat, jedenfalls seiner Meinung nach, Alltagspolitik nichts zu suchen. Es fragt sich, warum er inkonsequent ist und er eine Zirkelargumentation aufbaut. Dessen nicht genug, werden mit der Anpassung seines Begriffs der Menschenliebe an nicht wünschenswerte politische Extreme weitere Probleme aufgeworfen. Durch seine ungenaue Aufspannung des ersten Extrems (Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele) wird die politische Aufklärung der Moderne diskriminiert, denn der wünschenswerte Zustand befriedeter Konflikte wird als realisiert impliziert und der Notfall schlichtweg ausgegrenzt. Mit dem zweiten Extrem (Einsatz für staatszersetzende Gruppen) distanziert er sich von Gruppen, die gegen die freiheitliche Verfassung unseres Staates agieren. Da er Staat und Verfassung, wie erwähnt, unzertrennlich durch seine unscharfe Definition verbindet, sind alle staatsgegnerischen Handlungen per se als extremistische Handlungen verpönt. Sowohl die französische als auch die amerikanische Revolution wären damit gegen die Menschenliebe gerichtete staatszersetzende Akte gewesen. Das kann die logische Konsequenz sein, wenn man Bruder Thomas‘ Argumentation aufmerksam liest. Eine Möglichkeit, Verfassungspatriot und zugleich staatskritisch zu sein, verunmöglicht er mit dieser Auffassung.

Toleranz durch Intoleranz?

Zu guter Letzt erörtert er, was er unter Toleranz versteht, indem er sie als Akzeptanz negativer Bewertung von etwas, ihre Begründung und die Grenzziehung durch Zurückweisung des Negativen definiert. Toleranz braucht somit das Negative, Abstoßende. Muss man dann sagen: Dank den Rassisten und Faschisten, da man ansonsten nicht tolerant sein kann? Eine etwas makabre Sicht der Dinge. Sie ist aber seinen schmalen Ausführungen zur Toleranz geschuldet. Der Autor, so bleibt festzustellen, sollte an seiner Argumentation arbeiten, will er plausibel machen, was und was nicht politisch diskutiert werden soll. Zumindest wagt er einen ersten, wenn auch zaghaften, ambivalenten Versuch der Einführung des Politischen in die Logen. Ein Versuch, der wichtig ist, denn durch seine Diskussion wird das Notwendige in der heutigen Freimaurerei sichtbar:

Für eine politische Diskussionskultur in den Logen

Wir sind weder von einer politisch mächtigen Kirche noch von einem düsteren politischen Regime wegen unserer Ansichten und Handlungsweisen verfolgt. Jeder Bruder kann seinen freimaurerischen Geschäften nachgehen, ohne Angst um Leib und Leben haben zu müssen. Die heutige Freimaurerei leidet eher an Nachwuchsproblemen, die wohl auch mit dem unmagischen Programm ihrer Eigentlichkeit zusammenhängen. Diese Situation ist aber nicht zu vergleichen mit der Situation vor 300 Jahren. Damals musste man um sein Leben und seine Stellung bangen, wenn man sich öffentlich zur Freimaurerei bekannte. Die Maßstäbe unseres Handelns als Freimaurer sind in dieser Zeit verfasst worden und waren damals für die Brüder überlebenswichtige Anker. Heute sind sie modernisierungsbedürftig, da sich die politische Zeit geändert hat. Wenn ein Bruder einen anderen fragt, wie es ihm in der Zeit der Pandemie ergangen ist, muss er gefasst sein, dass der gefragte Bruder politisch antwortet. Der Gefragte kann annehmen, in einer Zeit gelebt zu haben, in der Politik ohne Volkssouveränität agierte. Soll man das ignorieren und zum nächsten Punkt gehen? Menschen in der heutigen Zeit fühlen sich dann in der Regel nicht ernstgenommen. Heute ist es wichtig, sich politisch zu artikulieren, um das Radikale zu enttarnen und sich dagegen zu stellen. Das geht aber nicht in Selbstbeschau auf das menschliche Sein unter einer Käseglocke, sondern nur als gesellschaftlich verortetes Wesen, sodass eine Diskussion ins Politische über Alltagspolitik passiert. Es ist quasi die unterste Stufe eines politischen Diskurses, der sich weiter entwickeln kann zur ideengeleiteten Diskussion. Gerade in den Logen besteht die Chance, Vorreiter einer kommunikativen Reform unserer Gesellschaft durch Implementierung von Diskursen zu sein, deren Verwirklichung im politischen Raum auch aus Sachzwängen heraus nicht möglich ist. Wir sind heute tiefgehend als Gesellschaftsmitglieder und Bürger verwurzelte Wesen, weil wir politisch verortet sind. Das haben wir im deutschen Bildungssystem mit dem Ideal des sich selbstverwirklichenden Menschen seit mindestens 50 Jahren eintrainiert. Wir sollen uns selbstverwirklichen, indem wir eigenständig und als politische Akteure aktiv werden. Man schafft so manchen Irrglauben ab, strebt man nach diesem Ideal. Menschen fühlen sich nicht mehr als passiv gelenkte Wesen. Mit Kohlberg kann man sowieso nicht die höchsten Stufen der Moral erreichen, ohne ein politisch denkendes Wesen zu sein. Man bleibt hinter seinen Optionen. Wer will das schon? Eine Möglichkeit besteht in der gezielten Implementierung eines Kommunikationssystems, in dem man einer gewaltfreien Diskussion von Argumenten dadurch nachgeht, dass das beste Argument obsiegen mag. Dazu muss man, um die Gepflogenheiten in den Logen nicht zu verletzen, nicht diskutieren, bis der letzte Bruder überzeugt ist, sondern kann solange diskutieren, bis sich keiner mehr zu Wort meldet oder die limitierte Zeit abgelaufen ist. Jeder nimmt aus dem, was gesagt wurde, das mit, was er für sich als wichtig empfindet. In einer anderen Variante kann man festhalten, welche differenten Standpunkte zu einem Themenkomplex bestehen, und in einer weiteren kann man festhalten, auf was man sich in der geleiteten Diskussion geeinigt hat. Dafür muss man zugegebenermaßen den Kategorischen Imperativ nach Habermas‘ Art etwas zurückbauen. Aber es gibt damit die Möglichkeit der befriedeten Kommunikation in der geleiteten Diskussion politischer Themen.
Es wäre doch eine ehrenvolle Aufgabe, in unseren Logen mit der Implementierung eines modernen Kommunikationssystems die althergebrachten Befürchtungen, Politik schaffe Hass, Missgunst, Streit und Konflikte, hinter sich zu lassen. Moderne Individuen haben gelernt, dass Politik befriedet verläuft, wenn sie in den Rahmen gewaltfreier Kommunikation gelenkt wird, und damit die Möglichkeit besteht, über eine diskursive Erörterung politischer Themen sich selber fortwährend besser zu erkennen und zu verwirklichen. Politik aus Logen auszugrenzen nimmt ihnen die Chance der Erörterung der vollwertigen Freiheit des Menschen und in diesem Sinne menschenlieb und tolerant zu sein.

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 5-2020 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.