Der Begründer der analytischen Psychologie, C.G. Jung beschreibt zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Menschen mit mehr als einer rationalen und bewussten Seite.
Von Axel Schönhals
Unser gegenwärtiges Leben wird von der Göttin Vernunft regiert, die unsere größte und tragischste Illusion ist. Mit Hilfe der Vernunft, so reden wir uns ein, haben wir die Natur besiegt. Aber das ist lediglich ein Schlagwort. Der rational denkende Intellektuelle weiß häufig nicht, dass sein Bewusstsein nicht seine ganze Psyche ist.
C. G. Jung
Als Psyche beschrieb Jung die Gesamtheit aller geistigen Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale eines menschlichen Individuums. Seit den Erkenntnissen und Prämissen Sigmund Freuds haben wir die Vorstellung gewonnen, dass unbewusste Wirkfaktoren das menschliche Verhalten mitbestimmen. Jung belegte sie mit dem Begriff Archetypen und fand sie in Träumen, Märchen, Sagen, Mythen, astrologischen Vorstellungen, vergleichenden Religionswissenschaften, vor allem aber bei seiner analytischen Arbeit mit menschlichen Verhaltensweisen im Vergleich der unterschiedlichsten Motive seiner Patienten. Sie wurden in einer Vielzahl von Bildern und Symbolen verdeutlicht und festgehalten. Solche bildhaften Darstellungen werden mit dem Gefühl einer undefinierbaren, aus den angeblich tiefsten Schichten unseres Inneren stammenden Urkraft und einer Urerfahrung verbunden.
Sie zu erforschen, ja sogar aktiv zu nutzen, schien mit einem eher diffus empfundenen Tabu belegt. Die Ressourcen, die bei der Arbeit mit solchen, als neu und anders erfahrenen Wahrheiten freigelegt werden können, warten auf eine Aufarbeitung und Nutzung durch Menschen mit einem konsequenten, humanitären Wertekanon. Sie sollten dazu in der Lage sein, mythologische Zusammenhänge zu lesen. Bei einer systematischen Beschäftigung mit masonischen Themen begegnen den Suchenden, am rauen Stein Arbeitenden, verschiedenartigste Metamorphosen. Eine ganz besondere erfahren und erarbeiten wir uns in der eigenen Individuation.
Archetypen in der Freimaurerei sind beispielhaft die Initiation, die Sonne, das Licht, das musivische Pflaster, die Reisen und die Wandlungen.
Ein besonderer Archetypus, der des Schattens, gilt in der Psychologie als ein wichtiger Persönlichkeitsanteil des Menschen. In ihm vereinigen sich Aspekte, die einem positiven Selbstbild (Persona), wie wir es anstreben, entgegenstehen. Der Schatten wird daher häufig verdrängt oder verleugnet. Er wächst aber parallel zum Selbstbild und ist mit dem Ich untrennbar verbunden.
Neben der Negation wird der Schatten ebenso auf andere Personen projiziert, seltener allerdings auf Objekte. Die Auseinandersetzung mit dem Wesen des Schattens und seine Integration in eine gedachte Gesamtpersönlichkeit stellt einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Ganzwerdung, sprich Individuation des Menschen dar.
Die Ganzwerdung des Helden in den Epen der Antike findet durch die Konfrontation mit seinem Widersacher im Kampf statt. Der Held gerät in emotionale oder physische Todes-Nähe und triumphiert letztlich über seine Gegner. Abschließend erfährt er eine Auferstehung und tritt seine Rückreise (nach Hause) an. Er beginnt ein neues Leben (z. B. Ilias/Odysseus). In allen Überlieferungen steht der Schatten synonym für das Andere, das Unbewusste, die Nachtseite des Menschen. Symbolisch manifestiert er sich im Ungeheuer, im Monster. (Das Bildnis des Dorian Gray, Faust, Graf Dracula, Frankenstein). Auf sie werden im Verlauf der Erzählungen praktischerweise alle Werte übertragen, die mit der augenblicklichen Gesellschaftsordnung nicht konform gehen. Durch das Mittel der Übertragung und der Personifikation entstehen dadurch für uns Menschen Möglichkeiten der Verarbeitung, der Aufarbeitung.
Das Selbst ist immer auf das Andere im Schatten angewiesen. Es stellt sich so im Prozess der Abgrenzung her!
Unser aktuelles Konzept vom Menschsein fordert, dass wir eine stabile, kontinuierliche Einheit bilden und möglichst im gesamten Verlauf unseres Lebens ein verlässliches Verhalten zeigen. Die Metamorphosen unserer Monster können für mehrere Identitäten eines einzigen Wesens stehen.
Individuation ist eines der zentralen Themen der esoterischen Freimaurerei. Die Grundgedanken der Aufklärung, sich von einer selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien zu müssen, sind die Vorlage für ein freimaurerisches Konzept, diesen Prozess der Selbsterziehung auf dem Boden einer umfassenden Selbsterkenntnis/ Findung zu vollziehen. Bei dem Vorgang der Innenschau ist eine spezielle Öffnung des Menschen notwendig, für die es besonderer Voraussetzungen und Hilfen bedarf. Sie werden durch das Setting in unseren Logen unter den Regeln der Einübungs-Ethik bereits bei der Aufnahme für den Suchenden in der Initiation geschaffen und dann in seiner immerwährenden Arbeit an sich selbst in den verschiedenartigsten Schritten (Graden) verfeinert und fortgesetzt.
Die Archetypen sind dabei Qualitäten, die wir bereits in uns bereithalten. Im kollektiven Unbewussten – so C. G. Jung – sind diese energiegeladenen Urbilder in einer tiefen Schicht unserer menschlichen Psyche – unserem Stammesgedächtnis – abgespeichert. Die kollektiven Urbilder sind geprägt von ursprünglichen Verhaltens- und Reaktionsmustern, die wir als Mensch – unabhängig von Kultur und Sprache – in uns tragen. Archetypen sind Erlebniskomplexe, die zu einer Zeit entstanden sind, als das Bewusstsein noch nicht dachte, sondern lediglich wahrnahm.
Beseeltes Wesen ist lebendiges Wesen. Wäre die Bewegtheit und das Schillern der Seele nicht, der Mensch würde in seiner größten Leidenschaft, der Trägheit zum Stillstand kommen
C. G. Jung
Was können wir mit diesen Kräften tun und wozu dienen sie uns?
Diese Urkräfte (Ur-Energien oder archetypische Kräfte) verfügen über ein ungeheures Potenzial, das wir nutzen können, um mit ihrer Hilfe zu unserem unverfälschten, authentischen Kern unseres Selbst vorzudringen.
Die Authentizität wird so zum Ziel der Arbeit des Menschen an sich selbst, an seinem rauen Stein, um sich und so die Welt, ein wenig besser machen zu können. Sie trägt für den Einzelnen aber auch das Risiko, seine dunkle Seite in ein endgültiges Licht der Erkenntnis über sich selbst zu zerren. Ein individuelles Risiko unserer Selbstbewertung, dessen wir uns immer in ihrem ganzen Umfang bewusst sein sollten.
Ist das einer der Gründe, warum sich vorausahnend ein vorwiegend esoterischer gegenüber dem eher exoterisch getönten Freimaurer herausbildet, besser sich entwickelt? Wenn ja, ist er in der Folge durch seine esoterische maurerische Arbeit ausreichend gewappnet für die Ergebnisse der Selbstfindung? Das uneingeschränkte Bekenntnis zum Selbst nach seiner Präsentation erscheint mir wie eine Chance für den Bruder im geschützten Raum der Kette, in der alle Maurer stehen, einer Selbstentsprechung näher als in nahezu jeder anderen Konstellation zu kommen. Gefahren lauern dabei zum Beispiel in dem Irrglauben Einzelner, diese erlebten und so geschaffenen Räume, wie gut auch immer gemeint, therapeutisch nutzen zu können. Psychotherapie hat in gleicher Weise, wie die Religion, keinen gestalterischen Platz auf dem Baugerüst des Tempels der Humanität.
Bildhaft gesprochen findet sich Freimaurerei ebenfalls nicht im Setting des einsamen Sisyphus wie der bei Camus geschilderte. Einer sich ewig perpetuierenden Arbeit des Frevlers, die darin besteht, einen Stein immer wieder auf einen Gipfel zu rollen und anschließend immer wieder hinab fallen zu lassen. Die suizidale Absicht der Existenzialisten, den Stein aktiv unwiederbringlich ins Dunkel der Tiefe zu stoßen, ob der erlebten Realität der Sinnlosigkeit eines geprüften Daseins, sie kann und soll für uns Brüder Freimaurer keine Option unseres Handelns sein. Wer kann es dabei dem Menschen verübeln, der die zuvor selbst verordnete Einsamkeit aufgibt und Lösungen für Fragen seines Daseins in einer Gemeinschaft, wie einer der unseren sucht? Der aktiv herbeigeführte Suizid der dunklen Seite unseres Selbst erscheint wie eine letzte Metamorphose, ein Finale der Erkenntnis masonischer Mühen am rauen Stein. Ist das ein sich selbst komplettierendes Stück Freiheit in einem selbstbestimmten Leben einer konsequent gelebten Kreatur?
Die Loge als Wertegemeinschaft und Übungsraum für den Prozess der Individuation erscheint wie das Dach, unter dem sich geläutertes Leben mit den Werkzeugen der Einübungsethik erfahren und trainieren lässt. Die Antwort: „Ich bin’s zufrieden“, erhält dabei eine besondere Qualität auf die Frage nach dem Lohn (Zweck) unseres Daseins.
So wäre dann der esoterische Erlebnisraum doch so etwas wie eine höhere Erkenntnisstufe? Der Eintritt geschieht allerdings nicht durch einen chamäleonartigen Wechsel nach Rot, eine perfektere Vermehrung der Inszenierung in den verschiedensten Hochgradsystemen, mit nahezu aberwitzigen Orden und Titeln und abschließend im Erlebnis burlesker Metaphern. Er vollzieht sich nach Innen in eine ungleich größere Intimität des Maurers mit sich und seinem Selbst in allen Facetten des Menschseins. Hinzu kommen eine umfassendere Bereitschaft und Offenheit für den hoffentlich ebenfalls gelungenen Anderen, ohne unser Dazutun in einer für alle empfundenen besseren Welt. Bedeutet mehr Wissen über diese letzten Zusammenhänge auch weniger Schuld in dem Dickicht empfundener archetypischer Verstrickungen? Einsicht als die Voraussetzung für Nachsicht und Vergebung!
Wir verlassen Sisyphus am Fuße seines Berges der Mühen. Seine Lasten finden wir mit Leichtigkeit überall in unserem Leben. „Es lehrt uns eine höhere Treue, die die Götter leugnet und Felsen hebt“. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt uns weder unfruchtbar noch wertlos vor.
„Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen“, so endet Camus Essay über den Mythos des Sisyphus.
Pico della Mirandola, ein italienischer Philosoph der Renaissance, hat 1486 in seiner „Rede über die Würde des Menschen“ wegweisend für den Menschen, sowie für den Geist geschrieben: „Weder sterblich noch unsterblich bist du geschaffen, damit du wie dein eigener, frei entscheidender, schöpferischer Gestalter dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen, wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.“
Selbstbestimmtheit wird so zu der zentralen Qualität unseres Daseins.
Dies ist eine sehr ausgewogene Arbeit, wobei nicht unerwähnt bleiben darf, dass es Sig. Freud war, der C. G. Jung durch seine Analyse der Träume seiner
Patienten auf die Idee der Tiefenpsychologie gebracht hat. C.G. Jung hat dann in der freien Assoziation mit der Zeit “die Bilder des Unbewussten” in unsere Sprache übertragen; eine Leistung, die nicht hoch genug bewertet werden kann und damit die Tiefenpsychologie etabliert.
Suchende, die bei uns anklopfen und hauptsächlich Esoterik suchen, werden von uns abgewiesen. Ebenfalls müssen wir manchen Suchenden klarmachen, dass wir keine Psychotherapie betreiben.