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Die Loge Morpheus Zu den süßen Träumen

Foto: tan4ikk / envato.com

Vor etlichen Jahren wurde in einer Wiener Loge ein Lehrling rezipiert, der damals an Lebensjahren schon etwas fortgeschritten war. Er bemühte sich, regelmäßig und pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, und er besuchte auch alle gesellschaftlichen Veranstaltungen der Bauhütte. Seine Brüder kamen ihm mit großer Freundlichkeit entgegen, und er bestrebte sich, die höheren maurerischen Grade zu erreichen.

Von Klaus Henning

Kurze Zeit nach seiner Rezeption machte er während der Arbeit eine ziemlich irritierende Entdeckung: Er sah mit nicht geringem Schrecken, dass ein Bruder während des Baustücks schlief. Dieser Bruder döste nicht etwa, nein, er schlief wirklich und wahrhaftig.

Dem Lehrling kam das höchst ungehörig und unstatthaft vor. Seine Aufmerksamkeit für das Baustück ließ nach, und er blickte verstohlen herum, um zu sehen, ob auch andere Brüder dieses unerhörte Verhalten beobachtet hätten und ob sie daran Anstoß nähmen. Tatsächlich reagierte aber keiner der Brüder, auch nicht die beiden zur Rechten und zur Linken des Schläfers.

Weitere Beobachtungen machten in den folgenden Arbeiten alles noch viel drastischer. Denn nun, da seine Aufmerksamkeit einmal geweckt war, beobachtete der Lehrling die Brüder genauer und stellte fest, dass der Schläfer kein Einzelfall war: Manchmal waren es vier oder fünf Brüder, die gleichzeitig schliefen.

Der Lehrling kam mit seiner Entdeckung nicht zurecht. Er wollte keinen der Brüder – ob Schläfer oder nicht – auf die Sache ansprechen. So beobachtete er weiter und ertappte sich dabei, dass er begann, eine Typologie der Schläfer zu entwickeln.

Da war einmal der Typ des Kongressschläfers; das ist derjenige, der bequem zurückgelehnt dasitzt, ein Bein über das andere geschlagen, den Kopf leicht gesenkt und in eine Hand gestützt, solcherart den Eindruck völliger Versunkenheit in das Baustück erweckend, ein Typ, der besonders unter Ärzten anzutreffen ist.

Dann der militärische Schläfer, vorzugsweise auftretend in Juristenkreisen: Er sitzt kerzengerade, nicht einmal angelehnt, und er zerstreut vermeintlich schon durch seine Haltung jeden Verdacht, er könne nicht voll bei der Sache sein.

Ihm eng verwandt ist der Schläfertyp „geknickte Rose“; auch er sitzt kerzengerade da, wohl aus demselben Motiv wie der Militärschläfer, aber offenbar spielt die Halsmuskulatur nicht richtig mit, sodass der Kopf seitlich nach links oder rechts herunterhängt, jenen Rosen nicht unähnlich, die man in Nachtlokalen sündteuer kauft und deren Köpfe schon am nächsten Morgen traurig herabhängen. Dieser Typ ist den Künstlern zuzuordnen.

Der vierte und letzte Typ kann als Sleeping Buddha bezeichnet werden. Er ist keiner bestimmten Berufsgruppe zuzuordnen, er ist vielmehr die Schlafhaltung der Korpulenten, die schon vermöge ihres Körpers stabiler sind als alle anderen: die Hände des aufrecht und entspannt Sitzenden liegen auf den Oberschenkeln; er ruht gewissermaßen in sich, und das im eigentlichen Wortsinn.

Der Lehrling war inzwischen Geselle geworden und hatte sich schweigend damit abgefunden, dass es offenbar manche Brüder gab, die in der Logenarbeit einschliefen. Dies schien ihm zwar immer noch erstaunlich, aber längst nicht mehr so ungehörig wie am Anfang. Er stellte auch fest, dass das keine Frage des Alters war, denn der älteste Bruder der Loge schlief nie, und dieser Bruder war weitaus älter als alle anderen – er hatte den Neunziger schon überschritten. Hingegen gab es recht junge Brüder, die hin und wieder während der Arbeit eine Mütze Schlaf nahmen, wie man zu sagen pflegt.

Während einer Arbeit, in der der Geselle besonders viele Schläfer registrierte, entstand in ihm das ungewöhnliche Bild einer Loge, in der überhaupt niemand wach wäre. Er stellte sich vor, wie der Meister vom Stuhl seinen Kopf vornüber sinken ließe; dem Sekretär fiele der Kugelschreiber aus der Hand, vor dem Tempelhüter läge der Stab auf dem Boden, und die Aufseher schliefen, ihre Köpfe entspannt an die Säulen gelehnt, während von einem Tonband das Baustück abliefe. Er gab dieser imaginären Bauhütte den Logennamen „Morpheus zu den süßen Träumen“.

Inzwischen war der Geselle zum Meister erhoben worden, und ihm fiel auf, dass er begann, mit brüderlicher Liebe und Toleranz auf die schlafenden Brüder zu blicken. Er beglückwünschte sich dazu, dass er seiner Entrüstung im ersten Grad niemals Ausdruck verliehen hatte.

Denn da ist der Arzt, der sich den ganzen Tag im Dienst an den Patienten verausgabt hat und am Abend erschöpft auf ein wenig Freizeit wartet. Da ist der Anwalt, der nach einem entnervenden Arbeitstag im Kreis der Familie ausspannen möchte. Da ist der Architekt, der Aufträgen nachjagen muss, der Musiker, der tief im Probenstress steckt, und da sind sie alle, die gegen Abend von diesem Tag wirklich genug haben, die körperlich und seelisch abgespannt sind und eigentlich nur ein heißes Bad nehmen möchten, um sich dann mit einem Buch und einer Flasche Rotwein zurückzuziehen.

Doch was tun sie? Sie gehen stattdessen zur maurerischen Arbeit, weil sie ihre Bauhütte lieben, weil sie mit ihren Brüdern zusammen sein möchten und weil sie wissen, dass jeder von ihnen noch eine gute Strecke des maurerischen Weges zurückzulegen hat, was am besten gelingt, wenn man in der Kette steht.

Der Lehrling von einst hat sich – so hofft er – in der Gemeinschaft der Loge weiterentwickelt, und wenn er heute sieht, dass einem seiner Brüder langsam die Augen zufallen, dann betrachtet er ihn mit brüderlichem Wohlgefallen als einen, der sich für einige Minuten in sich selbst zurückzieht, um sich von den Mühen des Tages zu erholen.

Von seinem Platz vor den Reihen im Süden, den er in diesem Arbeitsjahr einnimmt, blickt er auf den Kreis seiner Brüder, und er versucht, die Aufgabe zu erfüllen, die ihm das Ritual aufträgt, nämlich Stärke zu geben auf dem Weg zum Licht.

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