Vor etlichen Jahren wurde in einer Wiener Loge ein Lehrling rezipiert, der damals an Lebensjahren schon etwas fortgeschritten war. Er bemühte sich, regelmäßig und pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, und er besuchte auch alle gesellschaftlichen Veranstaltungen der Bauhütte. Seine Brüder kamen ihm mit großer Freundlichkeit entgegen, und er bestrebte sich, die höheren maurerischen Grade zu erreichen.
Von Klaus Henning
Kurze Zeit nach seiner Rezeption machte er während der Arbeit eine ziemlich irritierende Entdeckung: Er sah mit nicht geringem Schrecken, dass ein Bruder während des Baustücks schlief. Dieser Bruder döste nicht etwa, nein, er schlief wirklich und wahrhaftig.
Dem Lehrling kam das höchst ungehörig und unstatthaft vor. Seine Aufmerksamkeit für das Baustück ließ nach, und er blickte verstohlen herum, um zu sehen, ob auch andere Brüder dieses unerhörte Verhalten beobachtet hätten und ob sie daran Anstoß nähmen. Tatsächlich reagierte aber keiner der Brüder, auch nicht die beiden zur Rechten und zur Linken des Schläfers.
Weitere Beobachtungen machten in den folgenden Arbeiten alles noch viel drastischer. Denn nun, da seine Aufmerksamkeit einmal geweckt war, beobachtete der Lehrling die Brüder genauer und stellte fest, dass der Schläfer kein Einzelfall war: Manchmal waren es vier oder fünf Brüder, die gleichzeitig schliefen.
Der Lehrling kam mit seiner Entdeckung nicht zurecht. Er wollte keinen der Brüder – ob Schläfer oder nicht – auf die Sache ansprechen. So beobachtete er weiter und ertappte sich dabei, dass er begann, eine Typologie der Schläfer zu entwickeln.
Da war einmal der Typ des Kongressschläfers; das ist derjenige, der bequem zurückgelehnt dasitzt, ein Bein über das andere geschlagen, den Kopf leicht gesenkt und in eine Hand gestützt, solcherart den Eindruck völliger Versunkenheit in das Baustück erweckend, ein Typ, der besonders unter Ärzten anzutreffen ist.
Dann der militärische Schläfer, vorzugsweise auftretend in Juristenkreisen: Er sitzt kerzengerade, nicht einmal angelehnt, und er zerstreut vermeintlich schon durch seine Haltung jeden Verdacht, er könne nicht voll bei der Sache sein.
Ihm eng verwandt ist der Schläfertyp „geknickte Rose“; auch er sitzt kerzengerade da, wohl aus demselben Motiv wie der Militärschläfer, aber offenbar spielt die Halsmuskulatur nicht richtig mit, sodass der Kopf seitlich nach links oder rechts herunterhängt, jenen Rosen nicht unähnlich, die man in Nachtlokalen sündteuer kauft und deren Köpfe schon am nächsten Morgen traurig herabhängen. Dieser Typ ist den Künstlern zuzuordnen.
Der vierte und letzte Typ kann als Sleeping Buddha bezeichnet werden. Er ist keiner bestimmten Berufsgruppe zuzuordnen, er ist vielmehr die Schlafhaltung der Korpulenten, die schon vermöge ihres Körpers stabiler sind als alle anderen: die Hände des aufrecht und entspannt Sitzenden liegen auf den Oberschenkeln; er ruht gewissermaßen in sich, und das im eigentlichen Wortsinn.
Der Lehrling war inzwischen Geselle geworden und hatte sich schweigend damit abgefunden, dass es offenbar manche Brüder gab, die in der Logenarbeit einschliefen. Dies schien ihm zwar immer noch erstaunlich, aber längst nicht mehr so ungehörig wie am Anfang. Er stellte auch fest, dass das keine Frage des Alters war, denn der älteste Bruder der Loge schlief nie, und dieser Bruder war weitaus älter als alle anderen – er hatte den Neunziger schon überschritten. Hingegen gab es recht junge Brüder, die hin und wieder während der Arbeit eine Mütze Schlaf nahmen, wie man zu sagen pflegt.
Während einer Arbeit, in der der Geselle besonders viele Schläfer registrierte, entstand in ihm das ungewöhnliche Bild einer Loge, in der überhaupt niemand wach wäre. Er stellte sich vor, wie der Meister vom Stuhl seinen Kopf vornüber sinken ließe; dem Sekretär fiele der Kugelschreiber aus der Hand, vor dem Tempelhüter läge der Stab auf dem Boden, und die Aufseher schliefen, ihre Köpfe entspannt an die Säulen gelehnt, während von einem Tonband das Baustück abliefe. Er gab dieser imaginären Bauhütte den Logennamen „Morpheus zu den süßen Träumen“.
Inzwischen war der Geselle zum Meister erhoben worden, und ihm fiel auf, dass er begann, mit brüderlicher Liebe und Toleranz auf die schlafenden Brüder zu blicken. Er beglückwünschte sich dazu, dass er seiner Entrüstung im ersten Grad niemals Ausdruck verliehen hatte.
Denn da ist der Arzt, der sich den ganzen Tag im Dienst an den Patienten verausgabt hat und am Abend erschöpft auf ein wenig Freizeit wartet. Da ist der Anwalt, der nach einem entnervenden Arbeitstag im Kreis der Familie ausspannen möchte. Da ist der Architekt, der Aufträgen nachjagen muss, der Musiker, der tief im Probenstress steckt, und da sind sie alle, die gegen Abend von diesem Tag wirklich genug haben, die körperlich und seelisch abgespannt sind und eigentlich nur ein heißes Bad nehmen möchten, um sich dann mit einem Buch und einer Flasche Rotwein zurückzuziehen.
Doch was tun sie? Sie gehen stattdessen zur maurerischen Arbeit, weil sie ihre Bauhütte lieben, weil sie mit ihren Brüdern zusammen sein möchten und weil sie wissen, dass jeder von ihnen noch eine gute Strecke des maurerischen Weges zurückzulegen hat, was am besten gelingt, wenn man in der Kette steht.
Der Lehrling von einst hat sich – so hofft er – in der Gemeinschaft der Loge weiterentwickelt, und wenn er heute sieht, dass einem seiner Brüder langsam die Augen zufallen, dann betrachtet er ihn mit brüderlichem Wohlgefallen als einen, der sich für einige Minuten in sich selbst zurückzieht, um sich von den Mühen des Tages zu erholen.
Von seinem Platz vor den Reihen im Süden, den er in diesem Arbeitsjahr einnimmt, blickt er auf den Kreis seiner Brüder, und er versucht, die Aufgabe zu erfüllen, die ihm das Ritual aufträgt, nämlich Stärke zu geben auf dem Weg zum Licht.
In englischen Logen, meinem pers. Vorbild, ist das Amt des Redners und sog. Zeichnungen unbekannt. Es wird nur bei Aufnahmen, Beförderungen und Erhebungen rituell gearbeitet und dies nach meinen Erfahrungen im Emulation Rite recht oft. Also keine Schlafgelegenheit, auch bei einer durchschittlichen Arbeitsdauer von rund zwei Stunden nicht. Bis man dort Stuhlmeister wird, hat man übrigens alle anderen Aemter schon durchlaufen, was bei mir aber im AFAM-Ritus auch der Fall gewesen ist und sollte das ganze Ritual auswendig können. Wenn die begeisterten Kommentare ironisch gemeint sind, kann ich dies noch verstehen, sonst gibt es ja andere Vereine, bei denen man ruhig schlafen kann und sogar nicht mal hingehen muss. Ein Redner wendet bei uns viel Kraft und Zeit für seine Vorträge auf und ist m.E. nicht dazu da, Schlaflieder zu singen.
Lieber Bruder Guido, vielen Dank auch für deinen Kommentar. Ich habe auch einige Logenämter durchlaufen und habe seit meiner Aufnahme immer wieder das Amt des Redners übernommen. Mich hat der kleine Essay gut unterhalten und sehr gefreut.
Auch ich verwende viel Zeit und Konzentration auf meine Zeichnungen. Und ich freue mich, wenn auch nur ein Bruder nach der Zeichnung auf mich zukommt und mit mir das Gespräch sucht, oder mir sagt, dass er in letzter Zeit ähnlich über die von mir geschilderte Thematik gedacht habe. Oder die Kontroverse sucht.
Dann schon haben sich die Zeit und die Mühen für die Erstellung der Zeichnung meiner Ansicht nach gelohnt.
Mit herzlichen brüderlichen Grüßen, Andreas Hoffmann
Dies ist eine ganz wunderbar einfühlsame Geschichte, die zeigt, wie sich ein Bruder entwickelt vom Lehrling zum Meister und bei seinen Beobachtungen immer intensiver freimaurerisch denkt. Und auch, wenn die Geschichte nicht wahr ist, so ist sie doch herrlich erfunden. Danke!
Wie wunderbar und einfühlsam beschrieben. Und es ist ja auch von Vorteil, denn, wer schläft, der sündigt nicht .
Günter.F.Schmitz
Lodge Niederhein
Pensé en hacer este comentario en alemán pero siento que no expresaría lo que realmente me hizo sentir el leer este relato.
Me sorprendió ver la evolución del aprendiz y me sentí reflejado en el, esto me hace darme cuenta lo mucho que me falta por aprender acerca de lo que realmente significa ser fraternal y empatizar con otros.
Quiero llegar a ese nivel de ver lo que hay más allá de lo que se puede ver con los ojos.
LG Andres.
Übersetzung durch Deepl [ Redaktion ]:
Ich habe darüber nachgedacht, diesen Kommentar auf Deutsch zu schreiben, aber ich habe das Gefühl, dass er nicht ausdrücken würde, was ich beim Lesen dieser Geschichte wirklich empfunden habe.
Ich war überrascht, die Entwicklung des Lehrlings zu sehen, und ich fühlte mich in ihm widergespiegelt. Das macht mir klar, wie viel ich noch darüber lernen muss, was es wirklich bedeutet, brüderlich zu sein und sich in andere einzufühlen.
Ich möchte die Ebene erreichen, auf der man sieht, was jenseits dessen liegt, was man mit den Augen sieht.
Und wenn dann erwachsene Männer gar aneinander gelehnt schlafen – ein Bild innigster Bürderlichkeit.
Danke.
Sehr schön geschrieben. Schön bildlich die einzelnen Dinge dargestellt und vor allem die Änderung auf dem maurischen Weg des Bruders. Sehr gelungen.
Wunderbar geschrieben. Vielen Dank für die Mühe lieber Bruder. Für mich seit geraumer Zeit mal wieder ein Text, der nicht zum einschlafen ist.
Wie herrlich, wie wundervoll, wie menschlich, wie brüderlich. Dankeschön!
Lieber Br. Klaus,
Welch treffliche Beschreibung der Realität und zugleich vorzügliche Übertragung auf wahres maurerisches Handeln und erkennen – danke – unterhaltsam und lehrreich zugleich xxx
Vielen lieben Dank für diese die Augen und das Herz öffnende Geschichte. Einmal mehr beleuchtet sie unser Wachstum als Freimaurer und die sich daraus ergebenden guten Einflüsse auf unsere Umwelt. Eine zu Herzen gehende Erzählung. Ich freue mich auf weitere lehrreiche Erzählungen.