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Die Paulskirche als Wiege der Europäischen Demokratie und Ort des Erinnerns – eine freimaurerische Perspektive

Thomas Forwe, Zugeordneter Großmeister der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (AFuAMvD)

Festvortrag anlässlich der 175-Jahrfeier Frankfurter Paulskirchenparlament des Frankfurter Meisterzirkels

Ich danke dem Frankfurter Meisterzirkel sehr für diese Einladung und generell für das Erinnern an dieses für die Demokratie so wichtigen Ereignisses. 

Die Soziologin Elena Esposito merkte in ihrem Werk Soziales Gedächtnis an, dass 

„die Problematik des Gedächtnisses nicht in einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit [liegt], sondern in seinem Verhältnis zur Gegenwart; denn nur in der Gegenwart kann man sich erinnern oder vergessen.“  

Es ist mir eine große Ehre, einige Gedanken hierzu mit Ihnen heute teilen zu dürfen. Gleichwohl habe ich vor dieser Aufgabe auch großen Respekt. Sie alle haben sicherlich bereits viel über dieses historische Ereignis erfahren. Was könnte ich dem noch hinzufügen? 

Hier in diesem Hause und in dieser Loge, der Loge „Zur Einigkeit“, wurde ich vor fast exakt 12 Jahren in den Bund der Freimaurer aufgenommen. Es liegt also nahe, dass ich Ihnen eine freimaurerische Perspektive in Verbindung mit diesem Ereignis anbieten werde. 

„Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: »Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?« Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: »Was zum Teufel ist Wasser?«“ 

Mit dieser Parabel begann der US-amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace 2005 seine erste und zugleich einzige Rede vor der Abschlussklasse eines Colleges. Und wie er, so beruhige ich Sie auch schon sogleich damit, dass ich nicht der weise alte Fisch sein werde, der Ihnen erklärt, was Wasser ist. Die Pointe der Geschichte ist, dass die offensichtlichsten, allgegenwärtigen und wichtigsten Tatsachen oft die sind, die am schwersten zu erkennen und zu diskutieren sind. 

Ähnlich geht es der Demokratie. Ihre Vorzüge gelten als selbstverständlich. Demokratie wird im Grunde nur dann wahrgenommen, wenn ihre Unvollkommenheit zum Vorschein kommt. Globalisierung, Klimawandel und der schleichende Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft führen die Demokratie als organisierte Form politischer Steuerung an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. In vielen Demokratien zeigen sich populistische Tendenzen. Das Vertrauen in Politiker, Parteien, Parlamente und Regierungen ist erschüttert. Sogar die Zustimmung zum demokratischen Regierungssystem an sich erodiert. Über dies hinaus verlieren auch die Medien, Banken, Privatunternehmen und Kirchen das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten, Wertvorstellungen und Kulturen betrachten sich zunehmend als Feinde. 

Es darf also mit Fug und Recht von einer Krise gesprochen werden. Aber, um es mit den Worten des italienischen Schriftstellers und Politikers Antonio Gramsci zu formulieren:  

„Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“  

Ich meine, wir müssen keine Angst vor den uns umgebenden Krisen haben. Ein gesunder Respekt jedoch scheint angebracht. 

Nun kann ich nicht leugnen, dass Bewertungsfragen immer auch eine Frage der Sichtweisen, also der Beobachter-Perspektiven sind. Und letztlich gibt es so viele Sichtweisen, wie es auch Beobachter gibt. Daher ist es klug, nicht bestimmte Perspektiven auszublenden, sondern möglichst viele Sichtweisen (natürlich nicht alle) zuzulassen, bevor man zu einer Bewertung kommt.  

Die folgenden Anmerkungen können als Angebot verstanden werden, eine weitere Sichtweise, nämlich meine freimaurerisch geprägte, kennenzulernen.  

Und wenn ich im Folgenden von Freimaurern und damit der maskulinen Freimaurerei rede, so sind Freimaurerinnen und auch die feminine Freimaurerei grundsätzlich immer eingeschlossen. Freimaurerinnen sind wichtiger Teil der gesamten deutschen Freimaurerei. 

I Warum ist die Paulskirche ein Ort des Erinnerns? 

In einem Vortrag vor Architekten führte der französische Philosoph Michel Foucault einen neuen Begriff ein, den der Heterotopie. Im Unterschied zu Utopien, sind Heterotopien Orte, die es tatsächlich gibt. Allerdings verkörpern diese Orte eine räumlich und zeitlich situierte Andersartigkeit, die mit alltäglichen Situationen und Orten nicht im Einklang stehen.  

Utopien sind den Menschen schon seit dem 16. Jahrhundert vertraut. Sie basieren auf dem Wunsch der Menschen, sich an einen anderen, besseren, schöneren Ort zu wünschen.  

Er selbst führte als Beispiele heterotopischer Orte an: Altenheime, Friedhöfe, Krankenhäuser, Gefängnisse, Kinos, Theater, Gärten etc.  

Sie alle zeichnen sich im Wesentlichen durch vier Eigenschaften aus:  

  1. Sie haben eine besondere räumliche Struktur, können also beispielsweise die ganze Welt, einen Staatenverbund oder auch ein Land an diesem einen Ort abbilden. 
  2. Sie haben eine besondere zeitliche Struktur, sie können sowohl endlos Zeit sammeln als auch nur wenige Momente umfassen. 
  3. Das Betreten dieser Räume ist an spezielle Ein- und Ausgangsrituale gebunden. Sie sind nicht ohne weiteres für jedermann zugänglich. 

Und 4. schließlich – und das scheint mir am bedeutendsten – entstehen in heterotopischen Räumen entweder Illusionen von neuen Wirklichkeiten oder aber es formen sich andere Wirklichkeiten, die den realen gegenüber vollkommener und damit besser erscheinen.  

Von all diesen Orten geht nach Foucaults Einschätzung eine gewisse Faszination aus, da sie in besonderer Weise gesellschaftliche Verhältnisse repräsentieren, negieren oder umkehren.  

Wir alle sammeln Tag für Tag Erfahrung mit Bauwerken, sei es der Arbeitsplatz, die Schule, das eigene Zuhause, Kirchen, Logenhäuser oder auch Amts- und Geschäftsgebäude – nur um einige Beispiele zu nennen. Und obwohl wir wissen oder zumindest erahnen, dass diese Räume und Orte gezielt geplant und gebaut worden sind, machen wir uns in der täglichen Praxis ihre Wirkung auf uns nicht auf besondere Weise bewusst. Sie haben vielleicht ähnliche Erfahrungen schon gemacht, z. B. bei ihrem ersten Besuch der Sixtinischen Kapelle. Oder bei Gericht, wo große mondäne Gebäude uns im Angesicht der Obrigkeit klein wirken lassen, oder beim Einkauf im IKEA-Geschäft, wo wir eigentlich nur Teelichter kaufen wollten.    

„Umgebungen so zu gestalten, dass sie die Gefühle und das Handeln der Menschen beeinflussen, ist […] älter als alle anderen Errungenschaften der menschlichen Zivilisation […], so Colin Ellard in seinem Buch Psychogeografie.  

Zwei solcher heterotopischer Räume möchte ich genauer untersuchen. 

Sie können es sicherlich schon erahnen. Die Paulskirche ist ein solcher Raum. Hier trat die Nationalversammlung am 18. Mai 1848 zu ihrer ersten Sitzung zusammen, mit der klaren Aufgabe, eine Verfassung für ganz Deutschland auszuarbeiten. Bei Glockengeläute und Kanonendonner zogen die Abgeordneten in das festlich geschmückte Gebäude ein. Wir können ohne Übertreibung von einem historischen Wendepunkt reden, waren doch Aufstände in ganz Deutschland vorausgegangen und erst die Krise der bestehenden Ordnung machte den Weg frei zum Paulskirchenparlament.  

Erstmals in der deutschen Geschichte wurde ein einheitliches Reichsbürgerrecht geschaffen. Ständische Vorrechte mussten durch das Gleichheitsprinzip für alle Menschen vor Gericht weichen. Die Abgeordneten schufen eine Heterotopie, indem sie von einer Utopie träumten, die erwartbar und auch möglich war. Auch wenn 1849 durch das deutliche Berliner Nein das Scheitern besiegelt wurde, stellen wir doch heute beim Blick in unser Grundgesetz freudig fest, wie nachhaltig die Wirkung der Arbeit der Nationalversammlung gewesen sein musste. Beispielhaft will ich hier erwähnen den Gleichheitsgrundsatz vor dem Gesetz, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Briefgeheimnis, die Presse- und Meinungsfreiheit oder auch die Glaubensfreiheit.  

Die Forschung belegt, dass nachweislich fast 60 Mitglieder der deutschen Nationalversammlung Freimaurer waren.  

Und sie erahnen es wiederum. Auch Freimaurerlogen können als heterotopische Räume verstanden werden. Es gilt etwa eine andere Zeitrechnung, mit der es möglich scheint, zumindest für die Dauer der Anwesenheit, Entschleunigung zu erfahren. Für einen, wenn auch nur kurzen Moment, entziehen wir uns dem Diktat des Immer-Schneller-Besser-Weiter-Prinzips. Wir entziehen uns dem kräftezehrenden Wettbewerb im Berufs- wie Privatleben, entledigen uns des oftmals anstrengenden Funktionieren-Müssens.  Mitglieder der Loge nehmen sich ausreichend Zeit für den eigenen Reifungsprozess. In der Loge entwickelt sich Freimaurerei zu einer realen Utopie, indem sie von einer Wirklichkeit kündet, die es weder gab noch bisher gibt. Die utopische Besonderheit zeichnet sich aber dadurch aus, dass auch sie hier den Charakter des Erwartbaren und des Möglichen gewinnt.  

Aber wie sieht diese reale Utopie aus?  

Am Anfang meines Vortrags hatte ich bereits verdeutlicht, dass wir bei der Beschreibung von Demokratie individuelle Wahrnehmungsfilter anwenden und somit jeder ein anderes Bild von ihr zeichnet. Damit stellt sich die Frage, wie wir denn die Anschlussfähigkeit herstellen, um über eine Sache gemeinsam zu reden, von der wir im Grunde alle ein anderes Bild haben. Anders gesagt: Wie können wir trotz unterschiedlicher Wahrnehmungen über Demokratie reden?  

II Der Tempel der Humanität benötigt eine demokratische Grundordnung 

In der Freimaurerei nutzen wir gerne Metapher und Symbole. So bezeichnen wir unsere Utopie als „unvollendeten Bau“ Anders formuliert: Wir bauen am Tempel der Humanität. Auch hier ist die Metapher „Bauen“ sehr interessant. Bauen heißt, man hat es mit etwas zu tun, das noch nicht fertig ist, das während des Bauens auch immer noch geändert werden kann. Bauen ist ein Verb, wir nannten es früher „Tu-Wort“, was zum Ausdruck bringen will, wir Brüder müssen tätig werden. Der Freimaurer beweist sich im Tun. Der Tempel der Humanität ist kein Zustand, wir werden auch den Bau nie vollenden. Der Prozess des Bauens ist wichtiger als das Erreichen des Endzustandes. Unsere Arbeit wird nie aufhören.  

Und gerade, weil wir uns auf kein konkretes, detailliertes Bild dieses Tempels geeinigt haben, können wir trotz allen verschiedenen Wahrnehmungen über den Tempel der Humanität reden. Dennoch ist er nicht beliebig. Wir Freimaurer vergegenwärtigen uns in jeder unserer Arbeiten, dass die Steine, deren wir bedürfen, die Menschen sind. Und Menschenliebe, Toleranz und Brüderlichkeit der Mörtel ist, der diese Steine verbindet.  

Es ist daher nicht verwunderlich, dass auch wir uns der Demokratie im Besonderen verpflichtet fühlen und uns einen Tempel der Humanität ohne ein demokratisches Steuerungssystem nicht vorstellen können. Auch wenn wir nicht ganz genau wissen, wie diese Demokratie konkret ausgestattet sein wird, sind für uns die Grund- und Menschenrechte tatsächlich alternativlos. 

III Wozu braucht es eigentlich eine Demokratie? 

Demokratie hatte es nie leicht. Auf ihr lastet eine 2000-jährige Geschichte und wenige Jahrhunderte praktischer Anwendung. Noch heute wird die Demokratie als eine Gesellschaftssteuerung verstanden, die durch das politische System betrieben wird. Vernachlässigt wird dabei die Tatsache, dass es immer mehr die Gesellschaft selbst ist, die die Prämissen derartiger Steuerungsmechanismen setzt.  

Demokratie steckt damit in einem Dilemma. Auf der einen Seite gilt die Aussage, dass sie als die beste bekannte Steuerungsform alternativlos ist. Auf der anderen Seite spüren wir gerade dieser Tage aber auch immer stärker deren Überforderung. Was tun? Wir erleben die bedingungslosen Verteidiger, die in fundamentalistischer Weise an der Ist-Situation festhalten, auf der anderen Seite allerdings auch ebensolche Gegner, die die Demokratie lieber heute als morgen zu Grabe tragen möchten. Beides halte ich für falsch, weil der Kern der Demokratie immer noch gültig und tragfähig ist.  

Demokratie, so führt Helmut Willke, Professor für Global Governance an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen, aus,  

„besteht aus fünf grundlegenden Bestandteilen: Legitimität, Partizipation, Transparenz, Herrschaft der Gesetze und Effektivität. Eingerahmt sind diese konstituierenden Komponenten von zwei Wertentscheidungen: Auf der Ebene der Personen die Entscheidung für die Würde des Menschen und auf der Ebene der Gesellschaft die Entscheidung für die wohlgeordnete Gesellschaft.“ 

Die Entscheidung für die Grund- und Menschenrechte ist das grundlegendste und wichtigste Merkmal einer Demokratie – unverzichtbar und damit nicht verhandelbar. Die Frage der Ordnung der Gesellschaft lässt Änderungsmöglichkeiten zu und könnte damit zum Korrektiv werden, die Demokratie ihrer Überforderung zu entledigen.  Das als Demokratie organisierte politische System hatte erkennbar zur Aufgabe, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen. Spätestens seit der Pandemie jedoch stellen wir fest, dass Entscheidungsoptionen nicht mehr im politischen System selbst produziert werden. Es treten plötzlich weitere Akteure auf, z. B. Wissenschaftler.  

Das politische System verliert seine Bedeutung als souveräne Entscheidungsinstanz eines Staates. Und dessen Akteure werden nicht mehr als Entscheidungskompetenz wahrgenommen. Niklas Luhmann thematisierte bereits 1971 einen Paradigmenwechsel: Normative Festlegungen und bei Irrtum starkes Durchhaltevermögen zeigen oder Lernen und Neugestalten. Bislang dominiert dieser normative Erwartungsstil, was eine enge Verbindung von Recht und Politik hervorbringt.   

„Es könnte sein“, so Luhmann, „dass diese eigentümliche Kombination von Recht und Politik gerade in ihrer besonderen Leistungsfähigkeit eine Fehlspezialisierung der Menschheitsentwicklung war.“ 

Moderne Gesellschaften sind heute durch einen hohen Zuwachs an Komplexität geprägt. Steigender Bildungsstand der Bevölkerung erleichtert die Verständigung über politische Themen. Gleichzeitig führt dieser Zuwachs aber auch zu immer mehr Informationen. Fast schon zwangsläufig wird man auf vielen Gebieten zu Laien. Und dies führt zu Verdruss bei den Bürgern. Während man bei so zentralen Themen wie Grund- und Menschenrechte sehr wohl noch mitdiskutieren kann und folglich der normativ geprägte Politikstil funktioniert, ist dies bei vielen anderen Themen (zu nennen wären beispielhaft Finanzkrise, Energiewende, Migration) nicht mehr möglich. Es bedarf einer vielfältigen Expertise, die in die politische Entscheidungsfindung einzubeziehen wäre, um dem Argument, die Politik wisse nicht, was sie tue, entgegenzuwirken. Klingt einfach, ist es aber nicht, haben doch auch Experten ganz unterschiedliche Meinungen und können ebenfalls falschliegen. Gerade in der Pandemie mussten viele schmerzlich feststellen, dass auch die Wissenschaften nicht über Wahrheit verfügen, sondern über vorläufige Konstruktionen – entsprechend ihrem eigenen Fortschritt.  

In seinem Werk Dezentrierte Gesellschaft schreibt Willke: 

„[ Es ] ist es denkbar (und wird dann Praxis), dass in anderen Bereichen der Gesellschaft nicht Ordnung im Sinne von Einheit zwingend ist, sondern Ordnung durch Heterogenität möglich wird – so etwa im Bereich der Religion dadurch, dass im gesellschaftlichen Kontext der Moderne Religion als Privatsache freigegeben und die Trennung von Staat und Kirche erreicht ist; oder im Bereich der Familie dadurch, dass ein gewisses Chaos als Organisationsprinzip der Familienbildung zugelassen wird, indem die Partnerwahl nicht mehr durch Schicht, Stand etc. vorgegeben ist, sondern dem freien Lauf der »Liebe als Passion« (Luhmann) folgen darf. Die liberalen Industriegesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts hatten diese beiden Aufgaben   [ Gewaltmonopol des Staates zu etablieren und die Freiheitsrechte der Bürger zu schützen ] im Prinzip gelöst und sahen sich der neuen Herausforderung gegenüber, die Wohlfahrt und soziale Sicherheit der Bürger – den pursuit of happiness – zu fördern. Die Verantwortung für Sicherheit und inneren Frieden wurde nicht obsolet, aber von der neuen Aufgabe überlagert. Die von der Politik erwartete Steuerungsleistung verlagert sich damit von der Eindämmung illegitimer Gewalt auf die Output-Seite politischer Programme. Der Politik wird eine Mitverantwortung für gesellschaftliche Wohlfahrt, für Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze und soziale Sicherheitssysteme aufgebürdet, ohne dass hinreichend deutlich würde, dass damit sowohl die Politik wie auch die Demokratie prinzipiell überfordert sind. Auswege aus diesem grundsätzlichen Dilemma sind bislang eher Symptombehandlungen und kurzfristiges Krisenmanagement.“

IV Die Zukunft hat bereits begonnen 

Zum Abschluss meines Vortrags möchte ich nochmals auf die zu Beginn von mir erwähnte Soziologin zurückkommen. 

Sie diagnostiziert das Zeitalter der Moderne nüchtern:  

„Das Bestreben nach Dauer wird ersetzt durch den Drang nach Veränderung, die Wiederholung durch Neuheit, die Beständigkeit durch Wandel. Das Gedächtnis erscheint als eine unfruchtbare Wiederkehr, es verliert an Anziehungskraft und Bedeutung, vor allem aber büßt es seine Relevanz und Allgegenwart ein. Es schrumpft zu einer begrenzten und randständigen Funktion, die nützlich sein kann, aber keine zentrale Bedeutung mehr einnimmt und auf keinen Fall das liefert, wonach man fortan sucht: Kreativität und Innovation.“ 

Aber wie sieht es heute aus? Nach ein paar Jahrhunderten Beschäftigung mit der Zukunft, so Esposito weiter, stellen wir fest, dass die Zukunft schon begonnen hat, aber wir wissen noch nicht, was wir damit anfangen können. Das Neue ist vorwiegend unbekannt, scheint unkontrollierbar und ist zumindest für einen großen Teil der Gesellschaft unverständlich.  

Daher scheint es lohnend, sich wieder unseres Gedächtnisses zu bemühen. Dieses Mal aber nicht, um die Vergangenheit wiederbeleben zu wollen, sondern sich der Formen zu bedienen, die die Gegenwart strukturieren und damit auch bewältigen lassen. In diesem Sinne danke ich allen sehr, die das Erinnern pflegen. Und eben Orte des Erinnerns schaffen, so wie es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eindringlich eingefordert hat. 

Ich will enden mit einem Zitat von Pablo Picasso: 

„Suchen – das ist das Ausgehen von alten Beständen und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuem. Finden – das ist das völlig Neue! Das Neue auch in der Bewegung. Alle Wege sind offen und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer! Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in die Ungewissheit, in die Führerlosigkeit geführt werden, die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen, die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht – menschlich beschränkt und eingeengt – das Ziel bestimmen. Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis im Außen und Innen: Das ist das Wesenhafte des modernen Menschen, der in aller Angst des Loslassens doch die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt.“ 

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