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Eine Alte Wette

Foto: MEFTAHYs-PROTOTYPE / envato.com

Oder: Warum sich Friedrich Ludwig Schröder für ChatGPT interessiert hätte

Von Karl-Heinz Hofacker

Mir gruselt. Darüber müssen wir reden. Wovor es mich gruselt? Vor ChatGPT!

ChatGPT ist eine sogenannte „Künstliche Intelligenz“ (KI), ein selbstlernendes Computerprogramm also, das nach einem unfassbar simplen Sprachmodell auf Basis statistischer Worthäufigkeiten arbeitet und dennoch ebenso unfassbar leistungsfähig ist. ChatGPT steht nach einer kostenlosen Registrierung aktuell jedermann frei im Internet zur Verfügung. Man kann dem System konkrete Fragen und Aufgaben stellen, und es sogar über eine Programmschnittstelle direkt in eigene Anwendungen einbauen. Anbieter ist eine kleine Firma im Umfeld des Softwareriesen Microsoft. Andere Firmen wie Google und Facebook/Meta entwickeln ähnliche Angebote. Weil ChatGPT aber aktuell in allen Medien rauf und runter verhandelt wird, verwende ich im Folgenden die Begriffe ChatGPT und KI, also „Künstlicher Intelligenz“, synonym.

KI wird in den nächsten max. 5 bis 10 Jahren unsere Alltagsrealität mit nie dagewesener Wucht komplett umkrempeln. Wie das? Nur wenige Fakten zur groben Einordnung:

KI kann mit Texten, Bildern und Grafiken, Ton- und Sprachaufnahmen und sogar mit Videos umgehen und diese formal perfekt neu erschaffen.

Bereits heute verfügbare KI ist in der Lage, ganze Berufszweige obsolet zu machen. Besonders gefährdet sind Berufe in Journalismus, Rechtspflege, Softwareentwicklung und Kreativberufe.

Darüber hinaus hat eine renommierte Unternehmensberatung 23 Szenarien der Nutzung hier und jetzt verfügbarer KI in sechs unterschiedlichen, in jedem Unternehmen vorhandenen Arbeitsbereichen wie Marketing, Verkauf, Werbung, Kundenbetreuung, Risikomanagement und Rechtsfragen, Personalwesen etc. identifiziert.

Der gewaltige Kostenvorteil von Software gegenüber Arbeitskräften mit Familie und Immobilienkredit und der ebenso wichtige kostensparende Vorteil, dass KI selbsttätig aus unstrukturiert vorhandenen Daten lernt, so dass deren Aufbereitung entfällt, wird zu einem überfallartigen Einbrechen von KI in unser aller Leben führen und gleichzeitig sehr vielen Menschen sehr schnell ihre Lebensgrundlage entziehen.

KI hat bekannte prinzipbedingte Probleme: Sie verstärkt Vorurteile und Stereotypen, und äußert sich bei aller formalen Perfektion häufig nicht faktentreu – Wasserwaage, Zirkel und Winkelmaß sind gefordert.

KI schafft aus vorhandenem Wissen gänzlich neues Wissen. Viele sich ergebende Rechtsfragen sind national und weltweit offen: Urheberrecht, Persönlichkeitsrecht, Leistungsschutzrecht, etc. Wem gehört das Wissen?

Da kommt also was auf uns zu! Stephen Hawking sagte bereits 2017: „Wir können … nicht wissen, ob uns die künstliche Intelligenz unendlich helfen wird, ob sie uns ignoriert und beiseiteschiebt oder ob sie uns möglicherweise zerstört“. Der Deutsche Ethikrat hat sich jüngst mit einer Stellungnahme zu KI geäußert, die nicht weniger als 287 Seiten umfasst! Größen der IT-Industrie, darunter der Chef eines KI-Anbieters, forderten just in dieser Woche gar in einem offenen Brief einen halbjährigen Entwicklungsstopp, um die wichtigsten offenen Fragen rund um KI überhaupt angehen zu können. KI ist also kein Thema, das in einer freimaurerischen Zeichnung auch nur ansatzweise erschöpfend behandelt werden könnte. ChatGPT ist mir aber Anlass, mich in dieser Zeichnung mit einer ganz anderen Frage zu beschäftigen: Gehört die Diskussion um ChatGPT überhaupt in eine Freimaurerloge? Was gehört eigentlich hier hinein, was nicht? Oder, etwas greifbarer: Würde sich Friedrich Ludwig Schröder heute mit ChatGPT befassen? – Dazu nähere ich mich der Freimaurerei zunächst auf einem etwas ungewöhnlichen Weg.

Als die ersten Affen vom Baum stiegen und unten als Menschen ankamen, sind sie eine Wette eingegangen; ob mit dem Christengott, Jahve, Allah, dem Großen Baumeister aller Welten, dem übergeordneten Prinzip des Universums oder wem auch immer, mag jeder für sich hier ergänzen. Die Wette des Menschen war und ist, sich Kraft seines Geistes ein Stück weit über die ihn umgebende Natur zu erheben, sich für ein besseres, selbstbestimmteres und würdigeres Leben von dieser zu emanzipieren und allein klarzukommen: wenn es kalt würde, würde man heizen, um länger beißen zu können, würde man sich die Zähne putzen, und wenn es langweilig würde, würde man ins Kino gehen – alles Dinge, die kein anderes Wesen des Planeten kann. Aus dieser Wette erwächst letztlich jedem Menschen dieselbe Würde, und daher hält auch jeder einzelne Mensch diese alte Wette – schon immer, bis heute.

Seit einem Vierteljahrtausend nun aber sägt die Menschheit in unersättlich ignorantem Streben nach immer noch mehr Wohlergehen immer eifriger an dem Ast, auf dem sie auf Mutter Erde sitzt: Umweltverschmutzung, Klimawandel, Artensterben, etc. Aber der Ausgang der Wette war immer schon gefährdet: bereits Kain schlug Abel den Schädel ein, und das ist bis heute trauriger Usus. Hinzu traten schnell subtilere Mittel, zum eigenen Vorteil und des anderen Nachteil Macht über andere zu erlangen. All das, und natürlich die vielen schlechten Eigenschaften – schön zusammengefasst in den sieben Todsünden der Christen: Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit –, von denen sich kein Mensch freisprechen kann, trägt dazu bei, dass die Menschheit ihre alte Wette zu verlieren droht und in Barbarei und Chaos, sozusagen unter die Verwaltung der Natur zurückfällt. In diesem Szenario kann Freimaurerei nun gesehen werden als eine nicht exklusive Methodik des Bestrebens und eine Einübung der Fertigkeiten, die notwendig sind, die alte Wette doch noch zu gewinnen. „Freimaurerei war immer!“, sagt Lessing, denn es gab immer Menschen, die die Wette gewinnen wollten. Und aus der Natur der Wette ergeben sich die Zielrichtungen und Wirkungsfelder der Freimaurer, und für diese Aufgaben haben sie ihre Werkzeuge.

Dem Menschen muss es darum gehen, seine mühsam erarbeiteten Errungenschaften wie Wissenschaft und Technik, Kunst und Kultur, Wirtschaft und Ökonomie vor dem Hintergrund und eingebettet in die Natur, deren Teil er trotz allem bleibt und die untrennbar Teil von ihm ist, mit seinem eigenen Wesen als Mensch mit unveräußerlicher Würde in Einklang zu bringen und, wo nötig, zu versöhnen. Genau dafür ist die Freimaurerei angetreten.

Profane nehmen meist an, Freimaurerei finde in der Loge statt. Freimaurerei definiert sich aber bekanntlich im Bild vom Tempelbau der Humanität, an dem alle Menschen mit allen Menschen für alle Menschen arbeiten und in dem Freimaurer allenfalls – und keineswegs exklusiv! – Vorarbeiter sind. Die Freimaurerei will ihre Wirkung also letztlich außerhalb der Loge zum Wohle der ganzen Menschheit entfalten. Die Arbeit in der Loge – die kontemplative Spiritualität des Rituals, die intellektuelle Ernsthaftigkeit der ethischen Diskurse und die inspirierende Geselligkeit brüderlicher Zugewandtheit, oder kurz: TA, Werkabend und brüderliches Gespräch – all dieses mit seinen vielfältigen Wirkungen auf den einzelnen Freimaurer ist kein Selbstzweck, sondern zielt auf die Befähigung und Ertüchtigung des Freimaurers, außerhalb der Loge zum Wohle der Menschheit zu wirken.

Prüfen wir diese These nun einmal an unserem geliebten historischen Meister der Herzen, Friedrich Ludwig Schröder, auf den wir uns so oft beziehen. Das freimaurerische Wirken dieses großen Mannes, auf- und angenommen, befördert, erhoben und hammerführend in unserer Bauhütte „Emanuel zur Maienblume“ in Hamburg und aus dieser in den Ewigen Osten vorausgegangen, ist mit seiner freimaurerischen Reformtätigkeit und der Schaffung unseres Rituals unumstritten und bekannt. Schröders Wirken lässt sich aber keineswegs auf Freimaurerei verengen. Außerhalb der Loge brachte er als erster die humanistischen Ideen aus dem England seiner Zeit in Form der Shakespearschen Theaterstücke auf deutsche Bühnen. Zudem gehen die Gründung des „Instituts für die kranken Dienstboten“ – das heute verpachtete „Elisabeth-Altenheim“ also – und der heutigen „Friedrich Ludwig Schröder Kinderstiftung“ auf Schröders Initiativen zurück. Schaut man sich Schröders Reformen der Freimaurerei genauer an, dann wird zudem offenbar, dass er ganz im Einklang mit seinem Wirken in der profanen Welt gezielt gegen die inneren Reibungsverluste und die Selbstbezogenheit der Freimaurerei seiner Zeit zu Felde zog – Stichworte sind hier „Strikte Observanz“ mit sieben Graden und der behaupteten Führung durch „Geheime Obere“ des Templerordens sowie die „Zinnendorf-Logen“ mit neun bzw. elf Graden. Schröder setzte die Abkehr von Ritterromantik, Mystizismus, Geheimlehren und Hochgraden, die Rückkehr zu allgemeiner Lebenserfahrung entsprechenden drei Graden, die Reduktion auf eine klar auf die Lebenswirklichkeit der damaligen Menschen bezogene und damit verständliche Symbolik, und nicht zuletzt die Wiedereinsetzung von Andersons in den anderen genannten Systemen kaum gelebten „Alten Pflichten“ ins Werk. Die damalige Gesellschaft war vom Verfall des Absolutismus, dem Aufbruch des Bürgertums und ersten zaghaften Demokratiebestrebungen gekennzeichnet. Schröders Reformen machten die Freimaurer der Schröder-Logen für diese Gesellschaft anschlussfähig – im Gegensatz zu den esoterisch-abgehobenen geheimen Zirkeln der „Strikten Observanz“ und den kaum weniger elitären Mitgliedern der christliche Ritterorden der „Zinnendorf-Logen“. Mit anderen Worten: Schröders Reformen dienten in der Loge der Befähigung und Ertüchtigung des Freimaurers, außerhalb der Loge dem Tempelbau der Humanität zum Erfolg zu verhelfen.

Erfolgreiche Arbeit am Tempelbau der Humanität ist nicht möglich, ohne den Problemen der Gesellschaft auf der Höhe der jeweiligen Zeit zu begegnen. Profane wie Freimaurer sollten sich also stets mit aktuellen, für alle Menschen relevanten Fragestellungen befassen; erst das befähigt zu solidem Tempelbau. Wird in der Freimaurerei auch meist zugestanden, dass die Wirkrichtung in die Gesellschaft, die Gemeinschaft aller Menschen zielen muss, so wurde und wird die Frage, ob und in welcher Form die Loge der Ort der Befähigung dazu sein sollte, in der Freimaurerei doch unterschiedlich beantwortet. Der gesellige Aspekt der Freimaurerei wird immer gerne gelebt, ebenso das Exklusivität garantierende Ritual. Bei den ethischen Diskursen wird aber nicht selten ein allzu konkreter Weltbezug ängstlich vermieden. Dafür bietet Andersons Formulierung in den „Alten Pflichten“, es dürften „keine Streitgespräche über Religion, Nation oder Politik in die Loge getragen werden“, offenbar ausreichend Deckung. Ein Beispiel: ich habe vor Jahren eine Zeichnung über Wahrheit mit der Bemerkung begonnen, Donald Trump sei von Faktenfindern soeben der 10000. Falschaussage überführt worden. Das ist mir von einem Freimaurer einer Schröderloge mit hochgezogener Augenbraue und der Bemerkung quittiert worden, das sei aber „arg politisch“. Lesen wir Anderson genau: Streitgespräche über Politik und Religion sollen aus der Loge ferngehalten werden, unschöne Auseinandersetzungen also; gesitteter Diskurs, und den kultivieren wir in der Freimaurerei ja bewusst, ist da keineswegs ausgeschlossen. Auch sollte nicht jedes gesellschaftliche Problem, nicht jede Frage aus Wissenschaft und Technik, Kunst und Kultur, Wirtschaft und Ökonomie schon deswegen aus den Logen verbannt werden, weil sie in der profanen Welt neben der inhaltlichen Diskussion auch Gegenstand politischer Auseinandersetzungen ist. Legte man solche Maßstäbe an, degradierte man die Freimaurerloge zu einer weiteren unter tausenden von der Realität abgeschotteten Wolkenkuckucksheimen. Auch blieben der Freimaurerei innewohnende, woanders kaum zu findende Chancen ungenutzt, denn in der Loge trifft sich überdurchschnittlich engagierter Sachverstand einer breiten Basis unterschiedlichster Berufe und Gesellschaftsschichten, der sein Niveau noch dazu durch langjährige Arbeit in der Loge stetig gezielt zu steigern sucht. Damit steht er nicht allein – Wissenschaftler beispielsweise haben meist mehr Expertise, oft allerdings auf einer schmaleren Basis –, aber dennoch eröffnet sich für Freimaurer, die die Kunst recht verstehen, so die Möglichkeit, am Tempelbau der Humanität Vorarbeiterstatus zu erlangen.

Friedrich Ludwig Schröders Antwort auf die Frage nach dem konkreten Weltbezug ethische Diskurse in der Loge ist oben deutlich geworden, und ich glaube – Stichwort Wolkenkuckucksheim – wir sollten ihm darin noch heute folgen. Zwar sehen wir uns heute hundertfach mehr und deutlich komplexeren Problemstellungen gegenüber als Schröder zu seiner Zeit. Das ist schlicht das Resultat von 200 Jahren industrieller Revolution und insbesondere von 50 Jahren IT-technischer Leistungsexplosion. Leider hat der Mensch, seine alte Wette vergessend, die unselige Tendenz, sich fünf neue Probleme zu schaffen, bevor er eines auch nur ansatzweise gelöst hat. Damit überfordert er sich als Profaner wie als Freimaurer. Andererseits hat er keine andere Chance, als sich den Problemen zu widmen und sie letztlich zu lösen.

Um auf meine Ausgangsfrage zurückzukommen: Friedrich Ludwig Schröder, würde er heute leben, würde sich für ChatGPT interessieren. Als Mann des Wortes und der Kreativität wäre er von den Möglichkeiten und Chancen des Sprachmodells begeistert, aber als ethisch-moralisch denkender und geschulter Kopf sähe er in mindestens gleicher Klarheit die Gefahren dieser Technologie – für die Würde des Menschen und für die Chance, die alte Wette der Menschheit doch noch zu gewinnen.

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