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Ritualdimensionen – ein zentraler Aspekt der Freimaurerei

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Freimaurerei lebt vom Diskurs. Dies gilt für ihre ethische Orientierung, dies gilt für ihre Stellung in der Gesellschaft, dies gilt aber auch für ihr Verhältnis zum Ritual.

Von Hans-Hermann Höhmann

Gewiss: die Lebendigkeit der freimaurerischen Rituale hängt vor allem von der Qualität der rituellen Praxis ab. Doch diese wiederum setzt nach aller Erfahrung eine hohe Qualität des rituellen Diskurses voraus, und daher sollten nicht zuletzt die Zeichnungen des Redners als Bestandteil ritueller Arbeiten Vorgaben für ein permanentes Ritualgespräch sein.

Rituelle Praxis ist ein vielfältiges Geschehen, und man muss, wenn man Rituale verstehen will, nach ihren vielfältigen Dimensionen fragen. Einige dieser Dimensionen sind für uns selbstverständlich. Trotzdem halte ich es für angebracht, an sie zu erinnern, nicht nur um das eigene Ritualverständnis zu vertiefen, sondern auch, weil man anhand der verschiedenen Ritualdimensionen das Wesen des freimaurerischen Rituals ohne Beeinträchtigung der Arkandisziplin sehr überzeugend nach außen vermitteln kann. „Erklären statt Enthüllen“ – längst ist es Zeit für eine solche „Wende der Darstellung“ im Verhältnis der Freimaurerei zu der sie umgebenden Öffentlichkeit.

Was sind die für uns als Freimaurer wichtigen Ritual-Dimensionen? Welche davon hätten wir als problematisch zu diskutieren?

Ritualdimensionen und ihre freimaurerische Bedeutung

Die folgende Auflistung typischer Ritualdimensionen mit erheblicher freimaurerischer Relevanz ist zu einem großen Teil der ritualtheoretischen Literatur entnommen und folgt vor allem der Arbeit des niederländischen Religionswissenschaftlers Jan Platvoet.

Was sind die uns als Freimaurer vertrauten Ritual-Dimensionen, die die Forschung beschreibt? Welche davon hätten wir problemorientiert zu diskutieren?

Zu den rituellen Selbstverständlichkeiten ohne weitere Perzeptionsschwierigkeiten gehört zunächst die interaktive Dimension des Rituals. Das Ritual ist ein spezifischer Typus sozialer (verbaler und nichtverbaler) Interaktion zwischen anwesenden und wechselseitig ansprechbaren Personen. Es braucht als Interaktion mindestens zwei Teilnehmer, der Kommunikationstheorie entsprechend einen „Sender“ und einen „Empfänger“, wobei sich diese Rollen vertauschen können. Auch göttliche Wesen können in die rituelle Kommunikation einbezogen werden, kaum aber Symbole des Göttlichen, wie der „Große Baumeister aller Welten“, – es sei denn, das Ritual würde als Gottesdienst verstanden. Doch wir müssen uns ja immer bewusst bleiben: Freimaurerei ist Wertegemeinschaft und nicht Glaubensgemeinschaft, sie ist ein ethisch orientierter Bund und keine Religion.

Selbstverständlich ist auch die Gewohnheits-Dimension. Das Ritual ist eine Folge sozialer Interaktionen, die durch beständige Wiederholung zur Gewohnheit gemacht werden. Prinzipiell wird das Ritual durch feste, bleibende Regeln bestimmt, die sich sowohl auf Inhalte als auch auf Modalitäten der richtigen Ausführung beziehen. Dennoch sind Rituale alles andere als starr, und „Ritualdynamik“ ist ein wesentliches Element des rituellen Geschehens. „Große“ Ritualdynamiken sind in der Freimaurerei allerdings selten, und eigentlich ist es seit dem 19. Jahrhunderts kaum mehr dazu gekommen, auch wenn die konkreten Ritualfassungen, wie etwa beim AFuAM-Ritual, neueren Datums sind.

Eine weitere, Freimaurern durchaus geläufige Dimension des Rituals ist die expressive Dimension: Die Gemeinschaft der Brüder wird im Ritual durch die bloße Tatsache, dass die Mitglieder der Loge daran teilnehmen, immer wieder abgebildet. Die Werte der Gemeinschaft und die Beziehungen zwischen den Teilnehmern finden ihren Ausdruck in den Positionen und den Rollen, die das Ritual vorgibt. Insofern, wie das Ritual auf diese Weise Solidarität, Identität und Grenzen einer Gruppe betont zum Ausdruck bringt, wirkt es für gewöhnlich integrativ nach innen, zugleich aber auch trennend nach außen, was in gestaffelten, vielgliedrigen Gradsystemen der Freimaurer durchaus zum Problem werden kann.

Weiter nennen möchte ich die Ritual-Dimensionen der Performance, des Performativen und der Multimedialität.

Die Dimension Performance bedeutet, dass das Ritual als Drama in Erscheinung tritt, bei dem das meiste, wenn nicht das ganze wie auf einer Bühne bewusst dargestellt wird. Nicht nur generell die verschiedenen freimaurerischen Rituale, in deren Zentrum die Initiationen stehen, sind dramatische Aufführungen, es kommt auch – im Ritual des Meistergrades – durch Aufführung der Hiramslegende zum „Drama im Drama“.

Die performative Dimension bedeutet das Herstellen neuer Wirklichkeiten durch Sprechakte und Handlungen, die das bewirken, wovon sie sprechen. Wenn wir zum Beispiel sagen: „Wir bauen den Tempel der Humanität!“ so meinen wir in diesem Augenblick, dass der humanitäre Tempelbau wirklich geschieht. Es sind vor allem diese performativ wirkenden Sprech- und Handlungsakte, durch die die freimaurerische Gruppe mit ihren Werten und habituellen Prägungen immer wieder neu konstituiert und geschaffen wird.

Die Dimension der Multimedialität meint, dass das Ritual als Kombination von Sprache, Mimik, Gestik, Bewegung und Musik in Erscheinung tritt, wobei es für die Wirkung des freimaurerischen Rituals immer darauf ankommt, die einzelnen Medien sorgfältig aufeinander abzustimmen und dafür zu sorgen, dass Sprechakte und Körperinszenierungen stets im Vordergrund bleiben.

Keine Schwierigkeiten macht dem Freimaurer auch die symbolische Dimension des Rituals, der Umstand, dass Ausdruck und Kommunikation in Ritualen durch symbolisches Sprechen und Handeln hervorgebracht werden. Dies geschieht vor allem mittels dichter, zentraler Kernsymbole, die in einer repetitiven und redundanten Weise Schüsselkonzepte des jeweiligen gruppenspezifischen Glaubens- und Wertesystem darstellen. Wer von uns dächte beim Stichwort Kernsymbole nicht sogleich an die drei „Großen Lichter der Freimaurerei“: Winkelmaß, Zirkel und Buch des „heiligen“ oder – besser ausgedrückt, weil im Allgemeinen in der Freimaurerei so verstanden – des moralischen Gesetzes. Die symbolische Sprache der Freimaurer kommt ohne Sprachbilder, ohne Metaphern nicht aus, und im Grunde genommen ist der gesamte Charakter der Freimaurerei, der nicht zuletzt in der symbolischen Übertragung von Bauwerkzeugen auf die moralische Welt besteht, metaphorisch. Damit ist die freimaurerische Ritualsprache gleichzeitig in hohem Maße allusiv, d.h. sie ist voller Anspielungen auf Gemeintes (und von der Bruderschaft auch Verstandenes), aber nicht direkt Gesagtes.

Vertraut sind wir auch damit, „dass Rituale mit einer im höchsten Maße symbolisch aufgeladenen Grenz- und Übergangserfahrung verknüpft sind“1, mit der sich vor allem der Ethnologe und Theateranthropologe Viktor Turner beschäftigt hat. Im Rückgriff auf Arnold van Genneps „Rites de Passage“ unterscheidet Turner drei Phasen des rituellen Übergangs: die Trennungsphase, in der der Initiant seinen bisherigen Status verlässt, die Schwellenphase, in der er sich in einem Zustand der Unbestimmtheit, der Liminalität, befindet sowie die Phase der Wiedereingliederung, in der der Initiant schließlich zu seinem neuen Status gelangt und so den Fortbestand der Gemeinschaft sichert. Bei Aufnahmen in den Freimaurerbund findet die Trennungsphase in der dunklen Kammer statt, die Schwellenphase im Ablauf des Aufnahmerituals bis zum Vollzug der Aufnahme durch den leitenden Meister („Jetzt sind Sie unser Bruder“) und die Phase der Wiedereingliederung von der Lichtgebung bis zum Ende der Aufnahme und der sich anschließenden Tafelloge.

Ganz wichtig ist die Dimension der Ritual-Ästhetik. Das Ritual muss „schön“ ausgeführt werden, hässlich ausgeführte Rituale scheitern in ihrer Wirkung. Vom Grad der Ästhetik beim Vollzug des Rituals hängt letztlich auch ab, ob sich jene emotionale Verzauberung einstellt, die das „Geheimnis“ der Freimaurerei ausmacht, das in der Tat als erlebte Verzauberung nicht verraten werden kann, und das im Grunde sehr wesentlich auch ein subjektives Geheimnis ist, das jeder Freimaurer auf seine ganz spezifische Weise erlebt.

Die Ritualästhetik reicht von der Ausgestaltung des Logenraumes bis zur Ritualmusik. Fragen wir nach den Besonderheiten der Ritualmusik, d. h. der Musik, die im Ritual verwendet wird, so lassen sich die folgenden Funktionen unterscheiden:

  • Musik trägt zur „Rahmung“ (Framing) des Rituals bei, so etwa beim Einzug und Auszug der Schwestern und Brüder.
  • Musik unterstreicht die Bedeutung von Textpassagen und Körperinszenierungen (etwa Hinweise in den Ritualbüchern: „An dieser Stelle laute Musik“).
  • Musik erlaubt – indem Pausen akzentuiert werden – ein Nachfühlen und Reflektieren von Textpassagen.
  • Musik befördert das „Fließen“ (Flow) des Rituals und trägt dazu bei, dass das Ritual im Zeitablauf als Einheit empfunden wird.
  • Vor allem aber vermittelt Musik Stimmung und schafft eine spirituelle Atmosphäre.

Auf Zweierlei ist jedoch strikt zu achten:

Einmal muss sich die gewählte Musik dem Ritual ein-, ja unterordnen. Musik im Ritual darf das Ritual nicht in ein Gesprächskonzert transformieren. Längere Passagen oder auch Bruchstücke von Sinfonien etwa entfalten oft ein Eigengewicht, das das Ritual gleichsam beiseiteschiebt und den aufgezeigten Funktionen einer gelungenen Ritualmusik nicht entspricht.

Zum anderen muss die Musik, vor allem, wenn sie mit Text verbunden, d.h. Gesang ist, der konkreten rituellen Situation entsprechen, in der sie zum Einsatz kommt. Die Zauberflöten-Arie „In diesen heiligen Hallen“ etwa dürfte eigentlich an der Stelle, wo sie meist ertönt, nicht erklingen. Denn ihr Text – von den Autoren der Oper in eine zwar emotional aufgeladenen, doch eher familiären Gesprächssituation zwischen Sarastro und Pamina platziert – soll die von der Mutter zum Mord an Sarastro bestimmte Tochter beschwichtigen und taugt eigentlich nicht als Einleitung einer ernsten, ja bedrohlichen rituellen Prüfung, wozu die Arie im deutschem Logenbrauch regelmäßig verwendet wird. Mozart und Schikaneder wussten genau, welche Musik mit welchem Text zu Beginn des Initiationsprozesses stimmig ist: der Gesang der „geharnischten Männer“ mit den Worten:

Der, welcher wandert diese Straße voll Beschwerden,
wird rein durch Feuer, Wasser, Luft und Erden.
Wenn er des Todes Schrecken überwinden kann,
schwingt er sich aus der Erde himmelan;
erleuchtet wird er dann im Stande sein,
sich den Mysterien der Isis ganz zu weihn.

Das Betrachten der Musik führt uns zu einem weiteren Aspekt des Rituals: der Dimension der Emotionaltät. Das Erzeugen guter, gehobener Stimmungen ist ein ganz zentrales inneres Form- und Gestaltungsprinzip der Freimaurerei. Freimaurerei in ihrer Gesamtheit, vor allem aber das freimaurerische Ritual generiert eine festlich gehobene, eine – dennoch! – optimistische Stimmung, eine Gefühlslage, die positive Empfindungen mit Ordnung und Maß verbindet, und die hilft, jene „gesellige Vernunft“ zu bewahren, die seit den Tagen der Aufklärung immer wieder kennzeichnend für die Kultur der Freimaurerei gewesen ist. Das Herstellen von Stimmungen durch den Zusammenklang von Worten, symbolischen Handlungen, Bildern und Musik ist wohl auch das wichtigste pädagogische Medium der Freimaurerei in der Gegenwart. Freimaurerei bedeutet auch heute sehr wesentlich die Einladung, sich besser zu fühlen, um die Möglichkeit zu erfahren, besser zu werden.

Die Ambivalenz des Rituellen

Schwieriger wird es allerdings, wenn wir über einen weiteren Aspekt der symbolischen Dimension des Rituals nachdenken, den Umstand nämlich, dass im „Hier“ des Rituals auf symbolische Weise etwas vollzogen wird, das sich auf ein „Dort“ im außerrituellen Bereich bezieht, dass die Symbole auf etwas verweisen, das zwar im Ritual nicht anwesend ist, auf das symbolisch-rituelles Handeln jedoch unabweisbar bezogen ist. „Meine Brüder, baut draußen weiter daran, wozu wir hier an stiller Stätte den Grundstein gelegt haben“ ist eine Formel, die Freimaurer wörtlich oder dem Sinne nach regelmäßig in ihren Ritualen verwenden. Damit wird auf die Notwendigkeit einer steten Entsprechung zwischen dem Auftrag des Rituals und einem Alltagsverhalten verwiesen, das aufgrund der im Ritual vermittelten Wert- und Verhaltensgrundlagen erfolgt. Doch ist die Annahme einer solchen Entsprechung innerhalb der Freimaurerei nicht eine Illusion? Wird das Ritual – statt ein über symbolische Orte und Zeiten hinausweisendes Handlungskonzept zu sein – nicht allzu oft zum Endzweck der Freimaurerei verkürzt, um den sich dann das Hamsterrad administrativer Routinen und persönlicher Auseinandersetzungen dreht?

Zur Erklärung des dramatischen Absturzes der Freimaurerzahlen in den USA von 4 auf 1,2 Millionen innerhalb weniger Jahrzehnte heißt es in einer hochinteressanten Ursachenanalyse der Masonic Service Association of North America mit dem bezeichnenden Titel IT’S ABOUT TIME! Moving Masonry into the 21st Century: „Masonic tradition became locked in ritual as an end, not as a process”.

„Locked in Ritual“ – kann das Ritual auch zur Fessel werden? Etwa, indem es stets nur auf das nächste Ritual und nicht auf die zu gestaltende Wirklichkeit verweist?

Wir sollten darüber nachdenken.

Schließlich noch – als eine weitere problematische Dimension, die Ritualen zufallen kann –, die strategische Dimension.

Rituale können auch dazu verwendet werden, Interessen einzelner Mitglieder und Gruppeninteressen zu fördern und Machtpositionen selbst ernannter Eliten zu festigen. Wie die politische Praxis totalitärer Systeme zeigt, werden regelmäßig Rituale eingesetzt, um die gewünschten politischen Rangordnungen durchzusetzen und die Unterwerfung der Beherrschten unter die Institutionen, Personen und politischen Ziele der Führung zu verstetigen. Es sind nicht zuletzt die Rituale der Herrschaft, die die Willkür der Unterwerfung emotional, habituell und kognitiv in eine natürliche, von der Vorsehung oder von der Geschichte bestimmte Ordnung verwandeln sollen.

Rituale bedürfen folglich stets der Hinterfragung, welchen und wessen Interessen sie dienen und mit welchen Auswirkungen auf die Struktur und das Zusammenleben der im Ritual dargestellten Gemeinschaft sie verbunden sind. Dies gilt auch für den Fall, dass sie – wie die Rituale der Freimaurerei – prinzipiell von der Gleichheit aller Mitglieder der Gemeinschaft ausgehen, jedoch nicht selten in Gefahr geraten, diese Gleichheit durch Rangerhöhungsrituale sowie durch aufgefächerte Gradhierarchien infrage stellen.

Diese Formen sind geeignet, Widersprüche auszulösen zwischen einer Logenrealität, die „bürgerliche“ Unterschiede und Rangstufen verfestigt, statt sie zu überwinden, und dem freimaurerischen Konzept des Menschen, der – so Lessing – als „bloßer Mensch“ anderen „bloßen Menschen“ in der Loge begegnet. Werden diese Formen nicht kritisch reflektiert und in ihren Auswirkungen kontrolliert, so können sie statt zur Herausbildung eines Habitus der Mitmenschlichkeit und Gleichberechtigung zur Generierung und Verfestigung eines narzisstischen Habitus, eines Habitus der Anmaßung und Eitelkeit führen.

Mein Fazit zum Schluss: Die Ritualforschung bietet dem freimaurerischen Ritualdiskurs spannendes Material und viele interessante Fragestellungen. Wir sollten dieses Material nutzen und unsere Ritualdiskurse ernsthaft und ohne Tabus führen. Dies schulden wir uns selbst. Dies schulden wir aber auch der uns umgebenden Öffentlichkeit mit all ihren Verständnisschwierigkeiten und Informationsdefiziten. Und wir sollten auch die Rituale der Freimaurerinnen in unsere Betrachtung einbeziehen. Diese Rituale können ja auf einem hohen Stand des rituellen Wissens in einem freieren Milieu ohne Tabus und institutionelle Denkbegrenzungen gestaltet werden. Deshalb bieten die Rituale der Freimaurerinnen, vorausgesetzt unsere Schwestern nutzen diese Gestaltungschance und vermeiden eine Wiederholung masonischer Fehlentwicklungen, einen weiteren Maßstab kritischer Selbstreflexion, den wir nutzen sollten.

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